Süddeutsche Zeitung

Kolumne:Entweder oder

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Die Logik der falschen Alternativen muss unterbrochen werden. Man kann sehr wohl die Berliner Wohnungspolitik für falsch halten und trotzdem die Gewaltexzesse in Friedrichshain verabscheuen.

Von Carolin Emcke

Vor einigen Jahren saß ich in Amerika nach einer Tagung mit einer größeren Gruppe von Akademikern in einem chinesischen Restaurant. Wie das so üblich ist, überlegten wir, mehrere Gerichte für alle zusammen zu bestellen. Jede und jeder in der Runde begann, seine kulinarischen Präferenzen oder allergischen Unverträglichkeiten zu benennen. Ich sagte, mir sei alles recht, bis auf Schweinefleisch. Darauf drehte sich einer der älteren Konferenz-Teilnehmer zu mir um und fragte: "Sie sind deutsch und essen kein Schweinefleisch?" Ich war derart verblüfft über diese unsinnige Bemerkung, dass mir nichts Besseres einfiel als zu erwidern: "Heutzutage, stellen Sie sich das mal vor, gibt es sogar pazifistische Deutsche."

Sie nehmen zu, die absichtsvoll eingesetzten, falschen Gegensätze

Gewiss, simple Schemata gehören zum geläufigen Repertoire des Denkens oder Sprechens über Kulturen oder Personen. Jeder und jedem von uns passiert es manchmal, dass wir in vorgestanzten Assoziationsketten und Ressentiments denken, ohne es zu merken. Aber manche Figuren falscher Gegensätze verstümmeln nicht nur die individuelle Fantasie, sondern verengen auch fatal den Spielraum politischer Debatten. Sie konstruieren vermeintliche Zwickmühlen, die logisch daherkommen, es aber nicht sind. Sie suggerieren, man müsse sich entscheiden zwischen sich wechselseitig ausschließenden Optionen, die sich aber in Wirklichkeit gar nicht ausschließen. Deswegen verwirren diese Muster so: Weil sie einen unter Druck setzen, zwischen zwei Varianten zu wählen, die für einen nicht stimmen oder die gar keine Varianten sind.

Vor etwas mehr als einem Jahr fragte mich auf einer Veranstaltung in Sachsen jemand, wie es denn sein könne, dass ich "nichts gegen Muslime" habe, ich sei doch schließlich homosexuell. In diesem Fall war ich derart perplex, dass ich verstummte. Am nächsten Morgen, als es natürlich zu spät war, fiel mir ein, was ich hätte antworten können: "Wissen Sie was? Es gibt sogar schwule Männer, die keine Opern mögen, lesbische Frauen, die kein Talent zum Heimwerkern haben und Sachsen, die keine Rassisten sind."

Sie nehmen zu, diese absichtsvoll eingesetzten, falschen Gegensätze. Sie bezwecken Abkürzungen im Diskurs: unbequeme Ambivalenzen, mühsame Präzisierungen, kleinteiliges Erörtern werden ausgeschaltet. Sie befördern die bereits ausgeprägte Dynamik der Polarisierung in der demokratischen Öffentlichkeit weiter. So werden einzelne Einschätzungen mit daraus angeblich folgenden Einschätzungen verbunden, als ließe sich nur in undifferenzierten Klumpen denken oder fühlen. Als in Dallas der afroamerikanische Attentäter Micah Xavier Johnson offensichtlich aus Hass auf Weiße fünf Polizisten ermordete und zwei weitere Beamte und zwei Zivilisten verletzte, wurde eilfertig eine solche Zwickmühle gesetzt: Jede geäußerte Kritik an der notorischen Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA ließ sich umgehend verkoppeln mit einer keineswegs geäußerten, sondern bloß unterstellten Zustimmung zur Gewalt gegen Polizisten. So wurde jeder Zweifel am gewalttätigen Verhalten der Polizei bei den Einsätzen in Louisiana und Minnesota denunzierbar als angebliche Legitimation der Gewalt. Als wäre nicht beides möglich: eine kritische Analyse der überproportional hohen Zahl schwarzer Opfer von Polizei-Einsätzen, die Frage nach institutionellem Rassismus in den Vereinigten Staaten und eine scharfe Verurteilung des Anschlags auf weiße Polizisten, die eine Demonstration der #blacklivesmatter-Bewegung schützen sollten. Als könnte sich Kritik nur an Identitäten festmachen, als gäbe es keine rechtsstaatlichen Normen und Gesetze, an denen sich orientieren und mit denen sich argumentieren lässt.

Es zeigt sich ein eigentümliches Verhältnis zur Gewalt in dieser Polarisierung: So als sei nicht Gewalt grundsätzlich fragwürdig, sondern nur wenn sie vom Clan der anderen begangen wurde. Auch wer das Gewaltmonopol eindeutig und unmissverständlich beim Staat verortet, kann immer noch einzelne Praktiken und Strukturen der Gewaltanwendung durch die Polizei analysieren und kritisieren. Es sind falsche Wenn-dann-Verknüpfungen, die zur Zeit zahllose Debatten um jede Möglichkeit der nachdenklichen Differenzierung bereinigen: Wenn jemand das Demokratiedefizit der Europäischen Union thematisiert, dann muss das auch ein Europa-Gegner sein. Wenn man die Sicherheitsgesetze des Ausnahmezustands für fragwürdig hält, die in Frankreich nach den Anschlägen von Paris beschlossen wurden, dann muss man auch automatisch den Terror befürworten.

Diese unzulässigen Verknüpfungen gehören unterbrochen: Es muss möglich sein, die Verdrängung ärmerer Menschen aus städtischem Wohnraum zu kritisieren, es muss möglich sein, den Mangel an bezahlbaren Mietwohnungen in Berlin zu beklagen und gleichzeitig die Gewalt gegen Polizeibeamte (wie jüngst in Friedrichshain) für absolut inakzeptabel und widerwärtig zu halten. So wie es auch möglich sein muss, das nächtliche Abfackeln von Wagen für unpolitisch und illegal zu halten und gleichzeitig das Vorgehen eines Innensenators, der eine Räumung ohne ausreichende Rechtsgrundlage anordnet, für rücktrittswürdig zu halten.

Wenn wir diese pseudo-analytischen Fallen nicht wieder abbauen, verarmt unser eigenes Denken und Fühlen. Wenn einzelne Überlegungen immer schon zu einem geschlossenen, ideologischen Klumpen geknetet werden, wenn individuelle Einschätzungen oder Handlungen immer schon zu kollektiven Dispositionen verallgemeinert werden, dann verkommt die öffentliche Auseinandersetzung zu antagonistischer Identitätspolitik, die nur noch in statischen Wir-gegen-sie-Kategorien agieren kann. In dieser Hermeneutik des Verdachts, in dieser martialischen Verbitterung wird Kritik als soziale Praxis nach und nach verdrängt. Vor allem reduziert sich so die Möglichkeit, individuelle oder strukturelle Fehler auch der eigenen Gruppe, Zunft oder Gesellschaft zu erkennen. Eine Gesellschaft jedoch, die aufgehört hat, sich selbstkritisch zu befragen und zu korrigieren, lernt nicht mehr.

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Quelle:
SZ vom 16.07.2016
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