Kolumne:Echtzeit

Karl-Markus Gauß

Karl-Markus Gauß, 65, ist österreichischer Schriftsteller und Essayist. Er lebt in Salzburg. Zeichnung: Bernd Schifferdecker

Wenn etwas Schlimmes passiert, wird das Ereignis mittels Smartphone binnen Sekunden in der ganzen Welt verbreitet. Man glaubt, man könne die Dinge so bannen.

Von Karl-Markus Gauß

Vor ein paar Monaten war ich zu einem Kongress eingeladen, bei dem es um neue Medien und alten Journalismus ging. Eine Referentin, bestens informiert über diese und offenbar schon gelangweilt über jenen, seit sie Lesen gelernt hatte, wusste ihre Thesen mit Elan vorzutragen. Ich folgte ihr gebannt, aber, zugegeben, auch mit wachsendem Vorbehalt, hatte ich doch das Gefühl, dass sie mit dem Journalismus, den sie für rettungslos veraltet erklärte, am liebsten gleich mein ganzes überkommenes Weltbild auf der Deponie für humanistischen Restmüll entsorgen wollte.

Aufregend wurde es, als sie gegen Ende ihrer Ausführungen auf ein Erdbeben zu sprechen kam, das sich in einem entlegenen Teil Südamerikas ereignet hatte. Während die Zeitungen früher von diesem Vorfall erst am nächsten Tag würden berichtet haben können, waren im Internet die ersten Bilder der Katastrophe bereits Minuten später zu sehen; und nach wenigen Stunden hatten so viele Menschen aus einer doch für nahezu menschenleer geltenden Region Aufnahmen und Erfahrungsberichte mittels ihrer Smartphones verschickt, dass alle Welt Bescheid wusste.

Die Vortragende war von dieser Sache so begeistert, dass sie am Ende triumphierend ausrief: "Wir waren schneller als das Erdbeben!" Mit "wir" meinte sie alles, was ihr für den Fortschritt stand, die innovative Technik, die neuen Medien, die große Gemeinschaft derer, die mit Kurznachrichten über Facebook oder Twitter, mit wackeligen Videos und Selfies von allen Orten der Welt an der permanenten Chronik der Gegenwart mitarbeiteten. Ich saß geradezu betäubt in dem Wirbel von Informationen und Verheißungen, den sie erzeugte, bis ich langsam mein Bewusstsein wieder erlangte und mir die Frage stellte: Was bedeutet es, wenn jemand schneller ist als die Katastrophe?

Gewiss, die Formulierung war plakativ gesetzt, denn selbst wenn man bereits zwei Minuten nach einem Erdbeben von diesem berichtet, ist die Nachricht natürlich nicht vorher eingelangt, sondern - das Wort sagt es ja selbst - nach ihm. Die heftig akklamierte Referentin hatte zwar die Chronologie nicht korrekt wiedergegeben, aber gerade damit bekräftigt, warum sie in die digitale Kommunikation vernarrt war: Natürlich waren es die Schnelligkeit und die nahezu unbegrenzte Reichweite, die sie faszinierten. Überzeugt, die Dinge würden sich immer noch schneller für eine immer noch größere Gemeinschaft weltweit vernetzter Menschen übertragen lassen, schien sie von einer merkwürdigen Heilserwartung erfüllt zu sein. Nicht nur, dass sie glaubte, jedwedes Vorkommnis, einmal mit Kamera festgehalten oder in Sätzen unmittelbarer Betroffenheit kommentiert, würde damit bereits erfasst und hinreichend erklärt sein. Nein, was sie persönlich völlig glaubwürdig vermittelte, war mehr, nämlich die Überzeugung, die Dinge, vermeintlich deutungsfrei festgehalten und für so viele Menschen übertragen, könnten auf diese Weise gewissermaßen gebannt werden.

Wer schneller als die Katastrophe ist, für den gibt es diese nur als Anlass, sie zu übertragen und damit zu einem Attribut der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu machen. Die Katastrophe als dramatischer Beweis der eigenen Kompetenz - und Existenz. Deswegen sind ja auch bei jedem Verkehrsunfall vor den Rettungskräften schon jene da, die ihre Fotos schießen und sogleich in alle Welt versenden. Dass sie damit den Helfern die Arbeit erschweren, ist nicht ihre Absicht, sie nehmen es nur frei von Bedenken in Kauf, weil das Katastrophische den Wesenskern ihrer digitalen Lebensbewältigung bildet. Insofern ist die aufs Erste marktschreierisch anmutende Behauptung, die digitalen Medien wären schneller als die Katastrophe selbst, doch deren geheimes Versprechen.

Rund fünfzehn Kilometer südlich von Salzburg liegt Hallein, eine schöne, alte Stadt, mit einer in die Keltenzeit zurückreichenden Tradition der Salzgewinnung und einer beachtlichen Gegenwart als Kulturstadt. Neben Gymnasien und Fachschulen verfügt Hallein auch über eine HTL, eine Höhere Technische Lehranstalt - ein in Österreich besonders erfolgreicher Schultyp, dessen Absolventen in vielen Berufen als Fachkräfte gesucht sind. Ihre Schüler gelten in der Regel nicht als aufsässig, sondern als besonders zielstrebig.

Ein Smartphone bei sich zu haben, gilt als eine Art Menschenrecht

Kürzlich aber waren sie so aufgebracht, dass sie am liebsten die Revolution ausgerufen hätten. Was war geschehen? Der Direktor hatte in der Schule Spinde aufstellen lassen, in denen die Schüler im Alter von ungefähr 15 bis 19 Jahren ihre Handys für die Dauer des Unterrichts deponieren mussten. Es ging dabei nicht um die pädagogisch durchaus berechtigte Frage, wie sich Smartphones sinnvoll im Unterricht einsetzen ließen, sondern darum, die Dauerbeschäftigung mit dem kleinen Apparat zu unterbinden.

Der landesweit beachtete Skandal, den die bravsten Schüler aller Zeiten erzeugten, gilt einem Apparat, den bei sich zu tragen die einen offenbar für ein Menschenrecht halten, während er den anderen eine Art von Körperteil geworden ist, den man nicht einfach amputieren und in einem Spind deponieren darf. In ihrem Protestschreiben haben die Schüler und Schülerinnen alle möglichen simplen Begründungen gegeben, warum sie ihre Handys während der ganzen Schulzeit benötigen, aber alles Argumentieren und Lamentieren lief auf das eine finale Bekenntnis hinaus: Wir müssen erreichbar sein, weil zu Hause immer ein Unglück passieren kann!

Wenn früher die Oma ausgerechnet während der Unterrichtszeit verstarb, wurde die Schulleitung angerufen, die den Enkel fünf Minuten später aus der Klasse holte und mit tröstenden Worten heimschickte. Aber auf diese fünf Minuten kommt es an. Und darauf, dass die sorgenden Eltern sofort, nicht erst am Abend erfahren müssen, ob die Mathe-Schularbeit wieder so katastrophal missraten ist wie beim letzten Mal. Dass die panisch reagierenden Jugendlichen ihre Mobiltelefone deswegen nicht mehr entbehren können, weil sie in Erwartung ständiger Katastrophen leben, bei denen sie mindestens in Echtzeit dabei sein müssen, ist die wahre Katastrophe.

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