Kolumne:Deutsche Feiern

Kurt Kister

Kurt Kister ist Leitender Redakteur und Autor der Süddeutschen Zeitung. Von 2011 bis zum Sommer 2020 war er auch deren Chefredakteur.

So wie Weihnachten in einer säkularen Gesellschaft nicht mehr viel mit Religion zu tun hat, wird auch der Nationalfeiertag in Deutschland eher nüchtern begangen.

Von Kurt Kister

In diesem Jahr fällt der Tag der Deutschen Einheit günstig. Es ist ein Montag, und das bedeutet, dass es ein langes Wochenende gibt. Weihnachten und Silvester dagegen sind jeweils an einem Samstag. Das ist nicht gut, denn wozu braucht man Feiertage an einem Wochenende, an dem man ohnehin frei hat?

Bundesweit gibt es immerhin acht gesetzliche Feiertage, sechs davon mit christlichem Hintergrund. Wer im Süden Deutschlands lebt, der vielleicht nicht Gott, aber doch dem Papst in Rom näher steht, der hat elf (Baden-Württemberg) oder zwölf (Bayern mit Mariä Himmelfahrt) solche zusätzlichen Ferientage.

Der Mehrzahl der Deutschen sind die Feiertage sehr willkommen; ihr jeweiliger Anlass wiederum ist ebenfalls der Mehrheit relativ egal. Trotz der immer noch großen Zahl von Menschen, die offiziell entweder katholisch oder evangelisch sind, ist die deutsche Gesellschaft weitgehend säkular bis religiös gleichgültig geworden. Natürlich gibt es eine aktive Minderheit, die ihren Glauben lebt. Aber es ist eine Minderheit, und jeder kann dafür den anekdotischen Beweis selbst führen: Man besuche an einem beliebigen Sonntag eine beliebige Kirche. Man wird, wenn man häufiger dahin geht, die treffen, die man immer trifft, überwiegend Frauen und Männer jenseits der 50. Und wenn in der Kirche weniger als die Hälfte der Plätze leer bleiben, dann ist dies ein erstaunlicher Sonntag.

Zu Weihnachten, einem Feiertag, kommen mehr. Sie tun das, weil sie sich an früher erinnern, weil ihre Kinder das auch erleben sollen, weil man einmal im Jahr "Stille Nacht" in einer dunklen Kirche singen möchte, weil die Oma da ist, weil man es halt so macht. Doch, es gibt auch Gläubige, die mit Christi Geburt mehr verbinden als eine Familientradition in einer Zeit, in der Familien so häufig zerbrechen wie kaum jemals zuvor. Aber die, die an einem Feiertag das feiern, weswegen so ein Tag ursprünglich einmal zu einem besonderen Tag wurde, sind nicht viele. Die meisten anderen haben Gott in die Ferien geschickt.

Mit dem Nationalfeiertag, dem 3. Oktober, verhält es sich ähnlich, auch wenn es bei ihm nicht um Religion geht. Die Zeiten, in denen Deutschland für mehr als nur ein paar Sonderlinge eine Art Gott war, sind vorbei. Dieses Verständnis des heiligen Deutschland ist bei Langemarck und Stalingrad gefallen. Was davon noch übrig war, wurde am 20. Juli 1944 im Hof des Berliner Bendlerblocks erschossen. Deutschland ist heute, trotz Pegida, Identitärer, fremdenfeindlicher Pöbler und Dresdner Bombenleger, ein Land mit einem ziemlich säkularisierten Nationalgefühl.

Auch das ist ein Nachklang jener Zeit, in der sich Deutschland, Deutschland über alles in Europa mit Feuer und Schwert geworfen hat. Die manchmal verbissene Debatte, die nach 1968 in Westdeutschland darüber geführt wurde, was deutscher Patriotismus nach Auschwitz sein kann, hat sich nicht erledigt. Aber sie ist weniger leidenschaftlich geworden. Und, auch das muss man konstatieren, sie beschäftigt die Gesellschaft, aber auch die Intellektuellen und die Kulturleute deutlich weniger als früher. Günter Grass, Heinrich Böll, Siegfried Lenz und viele andere, die in ihren Büchern immer wieder darüber räsoniert haben, was "deutsch" ist, werden heute nicht mehr viel gelesen. Ihre Romane und Novellen sind im Kanon des Deutschunterrichts und der Germanistik bis zu einem gewissen Grad mumifiziert worden.

Als vor 26 Jahren der 3. Oktober als Tag der Deutschen Einheit zum Nationalfeiertag bestimmt wurde, war dem ein Streit vorausgegangen, der wie alle solchen Konflikte um das Deutsche immer noch nachhallt. Viele wollten nicht den Tag feiern, an dem der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik vollzogen wurde, an dem, staatsrechtlich gesehen, die Einigung stattfand. Es gab jene, die nichts zu feiern hatten, weil sie das Ende der DDR betrauerten, und jene, die kein größeres Deutschland wollten.

Nicht wenige favorisierten stattdessen den 9. November. An jenem Tag wurde 1989 die Mauer geöffnet, was den Triumph des Freiheitswillens vieler Ostdeutscher symbolisierte. Und der 9. November ist das deutsche Schicksalsdatum: 1848 wurde der republikanische Paulskirchen-Abgeordnete Robert Blum erschossen; 1918 stürzte mit der Ausrufung der Republik das Kaiserreich; 1923 putschte Hitler in München; 1938 fielen deutsche Nazis in der Pogromnacht über Juden her. Bundespräsident Gustav Heinemann sprach 1969 von Deutschland als "schwierigem Vaterland". Er hatte recht, und diesem schwierigen Vaterland wäre der 9. November als Nationalfeiertag tatsächlich angemessener.

Offenheit gehört heute zur Identität Deutschlands. Das kann man durchaus feiern

Der 3. Oktober hat schon wieder seine eigene Tradition. Man veranstaltet jedes Jahr in einem anderen Bundesland ein Fest und kommt dabei, anders als andere an ihren Nationalfeiertagen, ohne Militärparaden aus. (Zwar hat das Militär seinen Platz in Deutschland, aber die Stärke dieses Landes fährt nun einmal nicht auf Panzerketten.) Die Einheitsfeiern wirken wie eine Mischung aus Volksfest, Tourismusbörse und Handelsmesse unter starker Bewachung. Es ist gut, dass es diese Feiern gibt. Aber wenn man sie nicht besucht und stattdessen am langen Wochenende an den Gardasee oder an die Müritz fährt, ist das keineswegs Verrat am Vaterland.

Deutschland verändert sich. Es hat sich in den Jahren nach 1989 sehr verändert, und trotz aller Nörgelei, aller Defizite und allem Pessimismus ist es ein Land, in dem man gut und gerne leben kann. Das wird so bleiben, auch wenn es sich weiter verändern wird. Schon in der Vergangenheit haben Zuwanderer, Flüchtlinge, Neubürger zu den Veränderungen beigetragen. Ins Ruhrgebiet wanderten einst die polnischen Arbeiter, die zu Deutschen wurden; es gab die Vertriebenenwelle nach 1945 aus den Ostgebieten; in die BRD kamen später Millionen "Gastarbeiter"; man nahm Flüchtlinge aus Asien und dem Balkan auf. Deutschland war immer offener, als dies manche wissen und heute viele nicht wissen wollen. Die Offenheit, die Freiheit, zu der auch die Bereitschaft zur Veränderung gehört, ist ein Teil der wirklichen Identität jenes Deutschlands, das man am 3. Oktober durchaus feiern kann.

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