Süddeutsche Zeitung

Kolumne:Andere Zeiten

Der Literaturnobelpreis für Bob Dylan enthält auch eine Botschaft an die Buchmesse: Wenn die Schreibkunst sich weigert, einen Resonanzraum zu bieten für viele, wird sie bedeutungslos.

Von Jagoda Marinic

Es ist das erste Mal, dass ich nicht durch die Gänge der Buchmesse spazieren und aufgedrehte Autoren treffen werde, die von ihrem Moment mit dem oder der Nobelpreisträger/in erzählen. Mit Bob Dylan hat kaum jemand seinen Moment. Oder besser. Mit Robert Zimmerman nicht. Mit Bob Dylan hat so gut wie jeder einen.

Kurz nach der Bekanntgabe bin ich beim Boston Book Festival in den USA, wo sich einige Sorgen machen, ob ihn Don DeLillo noch erhalten wird. Der Nobelpreis ist immer auch ein politischer Preis, heißt es. In Kanada kam nach der Ehrung für Alice Munroe im Jahr 2013 in Justin Trudeau einer an die Macht, der als Erstes öffentlich klarstellen wollte, dass wir im Jahr 2016 leben. Die Zeiten ändern sich. Der Poet, der aus diesem Satz einen Welthit machen konnte, hat den Preis nun für die USA erhalten. Es sei, sagen viele, auch ein Preis für das liberale Amerika. Zeiten ändern sich schließlich nicht nur zum Guten wie uns Donald Trump täglich lehrt. Doch auch Hillary Clinton steht nicht gerade für Folksongs und romantische Spaziergänge in der Cornelia Street. Wird einer wie Dylan, der sich immer vor der Vereinnahmung zu retten wusste, den Preis ablehnen? Und wenn er kommt, wird er singen?

Politisch ist Literatur auch, wenn sie uns daran erinnert, dass die Welt nicht schwarz-weiß ist

Im deutschen Literaturzirkus grassieren sofort krude Rollen rückwärts: Eigentlich hätte mit Dylan das Konservative schlechthin gesiegt und die Popmusik sei abgewertet worden. Nun gut. In der New York Times lese ich Erhellendes über die Texte, den Menschen und Künstler Dylan. Ist es wirklich zu wenig, ein Originalgenie auszuzeichnen? Wirken seine Texte überhaupt ohne die Melodie und die Person, fragen viele Kritiker. Wirken Bücher überhaupt ohne Rhythmus und die Person? In Ingeborg Bachmanns Büchern reflektierte sich immer auch Ingeborg Bachmann. Es stellt sich hier eine ganz andere Frage: Was will und kann der Künstler als öffentliche Person noch im Jahr 2016? Eine Zeit, in der die Selbstvermarktungsmaschinerie bisher unvorstellbare Kanäle gefunden hat. Kurz: Warum schreiben wir nicht alle einfach nur noch Kochbücher, weil die eben laufen und Verlage zu wissen scheinen, wie man die an den Mann bringt und davon anscheinend nicht überfordert sind.

Es ist das Zeitalter der "Produkte", nicht der Bücher. Als Produkt ist Bob Dylan ein lebendes Paradox. Ein Mensch, der sich erzürnte, wenn seine Sätze politisch missbraucht wurden. Und der doch immer dort auftrat, wo er sicher sein konnte, dass sein Auftritt politisch gedeutet werden würde. Einer, der, um zu werden, wer er für seine Fans ist, seinen Geburtsnamen ablegte und die Kunstfigur Dylan schuf - um dann als authentisch gefeiert zu werden. Die Weigerung, in seinem öffentlichen Leben Robert Zimmerman zu bleiben, hatte etwas damit zu tun, welches Leben diesem Robert Zimmerman beschieden war. Dieser Zimmerman, der Dylan war, wollte alles wagen dürfen und nicht festgeschrieben sein auf Vororte und fixe Lebensentwürfe. Ob das einsam macht? Klar. Ohne Einsamkeit hätten wir auf der Buchmesse nur halb so viele Bücher, die man nicht zuerst als Produkte sehen muss.

In den Buchmessegängen und Verlagshallen steht der Autor im Schatten der Talk-Sternchen und Medienmaschinen. Natürlich fragt dieser Nobelpreis auch: Wie viel Kraft hat die Kunst noch, bei den Menschen anzukommen? Gerade die deutsche Kunst, die sich zwischen Spitzwegs Dachkammer und bildungsbürgerlichem Elfenbeinturm gerne selbst isoliert. Können sich Schreibende hinter der Welt verstecken, die sie erschaffen? Oder müssen sie sich der bitteren Tatsache stellen, die schon Woody Allen wusste: "Ich hasse die Wirklichkeit, aber sie ist der einzige Ort, an dem man ein gutes Steak bekommt." Er ist so langweilig, der Ruf nach politischer Literatur in Deutschland. Er ist deshalb langweilig, weil man dahinter den moralischen Zeigefinger vermutet oder das Bleierne der Nachkriegsjahre. Aber politisch ist Literatur auch, wenn sie uns daran erinnert, dass die Welt nicht schwarzweiß ist, es mehr Lebensentwürfe gibt als die für Robert Zimmerman. Politisch ist es auch, wenn das, was ein Mensch auf der Reise zu seinem Leben erfährt, so verdammt leicht ins Ohr fällt wie Dylans Melodien. Statt wieder auf der Metaebene der Kritik zu zirkulieren, die sich wieder einmal vor ihrer eigenen Irrelevanz zu fürchten scheint, wäre dies eine Chance, zurückzukommen auf das Reden, das Erzählen, den Song, der ja vom Folksong kommt.

Die Nobel-Jury erinnert uns dieses Jahr an eine alte Idee: Der Künstler findet seine eigene Stimme und erzählt dabei so, dass er auch den Menschen, die zuhören, ihr Leben wiedergibt. Wenn die Schreibkunst sich weigert, einen Resonanzraum zu bieten für viele, wird sie bedeutungslos. Wenn es den Verlegern nicht gelingt, ihre Autoren mitsamt ihren Eigenheiten als welthaltig zu präsentieren, werden bald auf den Buchmessen die Koch- und Wellnessbücher, die gesellschaftlichen Alarmbücher so grell strahlen, dass wir nicht mehr wissen werden, wo die eigentlichen Geschichten zu finden sind.

Und dann braucht es vielleicht einen Poeten, der irgendwo sein Lied so singt, dass noch der letzte stehen bleibt, um ihm zuzuhören. Bis jeder sich daran erinnert, dass er einmal etwas anderes wollte als den letzten Schrei an veganem Kochbuch, um noch länger ein gesundes, langweiliges Leben zu führen. The Times They Are a-Changin'. Er wird den Applaus vielleicht nicht abwarten. Er braucht ihn nicht, um sich verankert zu fühlen in dem Leben, in dem auch alle anderen Halt suchen und ihn vielleicht nicht finden. Bis sie ein Lied hören. Und auch das ist politische Kunst. Bob Dylan wird nie mit einem verwechselt werden, der sich für ein Amt bewirbt. Er wird jedoch immer all jenen, die beurteilen, wie sie die finden, die sich für ein Amt bewerben, von dem Leben erzählen, das sie führen könnten. Von den Gefühlen, die in einer Gesellschaft Platz finden müssen. Oder besser: in einem Leben. Und in der Literatur.

Jagoda Marinic, 39, ist Schriftstellerin und leitet das Interkulturelle Zentrum Heidelberg. Zuletzt erschienen von ihr der Roman "Restaurant Dalmatia" und das Debattenbuch "Made in Germany: Was ist deutsch in Deutschland?" bei Hoffmann und Campe.

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Quelle:
SZ vom 22.10.2016
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