Kolumbien:Tausend Tote für eine schöne Statistik

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Die kolumbianische Armee soll unschuldige Männer ermordet haben, um ihre Bilanz im Kampf gegen die Rebellen zu verbessern.

Peter Burghardt

Die Mütter der ermordeten Söhne Kolumbiens haben Fotos mitgebracht, sie zeigen junge Gesichter, manche kindlich. Jaime Estiven Valencia Sanabria etwa, er wurde 16 Jahre alt. Julián Oviedo Monroy, 19 Jahre. Victor Fernando Gómez, 23 Jahre.

In Elendsvierteln, wie dem kolumbianischen Soacha, verschwinden täglich junge Menschen. (Foto: Foto: AFP)

Sie und mehr als tausend andere unschuldige Kolumbianer sind tot, erschossen von Soldaten, für Prämien und Statistik. Acht Frauen sitzen mit den Porträts in einem kahlen Zimmer der Menschenrechtsvereinigung Fedes von Soacha am Rande von Bogotá, eine Runde von Trauer und Wut.

Draußen prasselt Regen aus dunkelgrauen Wolken, das macht den heruntergekommenen Vorort der Hauptstadt noch trister. Eine Mutter nach der anderen erzählt, wie die Söhne verschwanden und irgendwo als Leiche auftauchten - in Guerillero-Uniform. Hier können sie ungestört reden und weinen, zwei Türen und vier Schlösser trennen sie von der Straße. Sonst ist es für sie gefährlich auszusagen.

Jetzt ist Carmenza Gómez an der Reihe, ihre Horrorgeschichte gleicht in den Grundzügen den anderen. Das Muster war ja bei allen dasselbe, aber bei ihr wurde alles noch schlimmer. Deshalb hat sie nicht mehr acht Kinder, sondern nur noch sechs. Sie sagt: "Ich werde dieses verfaulte System aufdecken, und wenn ich sterben muss wie meine beiden Söhne."

Tränen verschmieren die Wimperntusche, "Love" steht in Rot auf ihrer schwarzen Bluse. Sie will Täter und Auftraggeber ins Gefängnis bringen, womöglich bis hin zum kolumbianischen Präsidenten Álvaro Uribe und seinem vormaligen Verteidigungsminister Juan Manuel Santos, der bald sein Nachfolger werden will.

Notfalls wollen Kläger wie sie die ausländische Justiz bemühen, in letzter Instanz den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Das ist sie ihrem Victor Fernando und ihrem John Nelson schuldig, den beiden jungen Männern auf den Bildern in der Plastikfolie.

Victor Fernando Gómez leistete nach der Schule seinen Wehrdienst, er war ein begabter Tänzer, aber einen vernünftigen Job fand er nicht. "Mama, ich arbeite und kauf' dir ein Haus", versprach er, den Papa kannte er nicht. Doch es reichte bloß für eine Hütte in den Hügeln. Am 22. August 2008 hatte er mit einem Tag Autowaschen 12000 Pesos verdient, viereinhalb Euro.

Am 23. August war er weg - es habe ihm jemand einen gutbezahlten Einsatz im Norden versprochen, hieß es. "Sie haben ihn in die Irre geführt", sagt Carmenza Gómez. Wochen danach kam die Nachricht, er sei am 25. August 2008 in den Reihen der linken Farc-Guerilla gefallen - "im Kampf" mit dem Militär, 600 Kilometer nördlich in Ocaña.

Ihr Sohn ein Rebell im Gefecht, binnen zwei Tagen? Carmenza Gómez fuhr mit dem Bus an den Tatort. "Sind Sie vorbereitet auf das, was Sie sehen werden?", fragte ein Gerichtsmediziner im Leichenschauhaus. Eine Kugel hatte Victor Fernando Gómez zwischen den Augenbrauen getroffen, neun weitere hatten den Körper durchbohrt.

Die Mutter mietete einen teuren Leichenwagen, brachte den Sohn nach Hause und begrub ihn. Daheim in Soacha meldeten andere Familien ähnliche Tragödien, elf junge Einwohner waren vermisst worden und 48 Stunden später in Massengräbern von Ocaña gelandet. Ihre durchlöcherten Körper trugen Farc-Uniformen, daneben lagen Handgranate, Funkgerät und Waffe, wie hindrapiert.

Manche waren nachträglich umgezogen worden, denn der Stoff zeigte keine Einschüsse. Bald wusste man, warum: Offiziere und Subalterne der kolumbianischen Armee hatten Zivilisten verschleppt und massakriert, um Kopfgeld und Gefälligkeiten zu sammeln und die Kriegsbilanz aufzublähen.

Das ist selbst für Kolumbiens Verhältnisse grausig, obwohl in dem schönen Land zwischen Amazonas, Anden und Ozeanen seit vier Jahrzehnten ein Bürgerkrieg tobt. "Falsos Positivos" werden die Toten genannt, falsche Gefallene. 2000 Fälle sind unterdessen bekannt, und es könnten noch mehr sein, denn vielen Angehörigen fehlen für Anzeigen der Mut und die Mittel.

In die Falle gerieten vornehmlich junge und sogar minderjährige Arbeitslose, Tagelöhner und Bettler, die sich von Schleppern ins Verderben locken ließen. Luz María Bernal entdeckte ihren behinderten Sohn Fayr Leonardo in olivgrünem Farc-Gewand und mit neun Schüssen im Rücken - in der rechten Hand eine Waffe, dabei war er Linkshänder.

Als Belohnung für erlegte Guerilleros gab es bei den Streitkräften Sonderzahlungen und Extraurlaub. Und der Staat konnte sich mit Erfolgen rühmen. Das ist nicht neu, auch andere Streitkräfte pflegen den Body Count. Kolumbiens ehemalige Verteidigungsminister Camilo Ospina und Juan Manuel Santos indes hatten spezielle Anreize versprochen, und über allem steht die Strategie der "Demokratischen Sicherheit" des Präsidenten Uribe. Die Schlacht des Staates gegen "Terroristen", wie der Feldherr die Farc nennt, verkam zum Staatsterror.

UN-Statthalter Christian Salazar Volkmann spricht "von systematischen Menschenrechtsverbrechen in großem Stil". Präsident Uribe reagierte zunächst wie üblich. Die Ermordeten seien "nicht zum Kaffeepflücken" unterwegs gewesen, verkündete er, das schmerzte die Hinterbliebenen noch mehr.

Sein polternder Menschenrechts-Beauftrager Carlos Franco wettert im Präsidentenpalast Casa de Nariño, die Opfer hätten mit Kokain dealen wollen - dabei erwartete sie am Zielort Blei. Beiläufig erwähnt Franco, dass sich die Regierung schäme. Die Führung entließ 29 Militärmitglieder, darunter drei Generäle, gegen Hunderte Soldaten wird ermittelt.

Seit der Razzia registrieren die UN nur noch wenige Übergriffe. Allerdings werden viele Verfahren verschleppt - 29 Verdächtige im Fall Soacha kamen auf freien Fuß, weil die Untersuchungshaft ablief. Und Santos trat nicht zurück, sondern soll als Präsidentschaftskandidat am 30. Mai Uribes Erbe antreten. Die Falsos Positivos sind einer der grausigsten Skandale der Ära Uribe. Wenn Carlos Franco behauptet: "Das Thema ist heute praktisch erledigt", dann klingt das für die Betroffenen wie Hohn.

Carmenza Gómez erzählt, wie ihr zweiter Sohn niedergemetzelt wurde. John Nelson Gómez wollte mithelfen, den Tod seines Bruders Victor Fernando aufzuklären, das kostete auch ihn das Leben. Erst wurde er nach Drohungen von Unbekannten eine Brücke hinab geschubst. Dann schossen ihm am 4. Februar 2009 zwei Killer in den Mund, er starb am folgenden Morgen.

Carmenza Gómez wird ebenfalls bedroht, sie musste ihr Viertel verlassen, sie, die alleinerziehende Mutter und Großmutter von acht Lebenden und zwei Toten. Fast alle Mütter und Geschwister der Ermordeten von Soacha gelten als gefährdet.

Beistand leisten der Anwalt Luis Alfonso Ruiz und die Organisation Fedes, unterstützt vom katholischen Hilfswerk Misereor aus Aachen. Der Jurist Ruiz weiß, dass seine Telefone abgehört wurden, er nennt die Täter "ein kriminelles Unternehmen, das geht über das Militär hinaus".

Carmenza Gómez sagt, sie habe keine Angst. Sie will, dass die Mörder bestraft werden. Sie trat vor einen Ausschuss des Senats. Eine späte Einladung von Präsident Uribe schlugen die Frauen aus, sie wollten sich nicht auch noch im Wahlkampf benützen lassen. "Ich verzeihe Uribe und Santos nie", sagt Carmenza Gómez.

© SZ vom 21.04.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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