Südamerika:Kolumbien bangt um den Frieden

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Studenten in Bogota demonstrieren für ein "Ja" im Referendum. (Foto: AFP)

Das Land stimmt über den Vertrag mit den Farc-Rebellen ab. Kann nach 19 000 Tagen Krieg überhaupt jemand mit "Nein" stimmen? Ja - denn Frieden heißt nicht immer Gerechtigkeit.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Es ist endlich Frieden in Kolumbien, zumindest auf dem Papier. Nach 52 Jahren Bürgerkrieg mit mindestens 220 000 Toten und mehr als sechs Millionen Vertriebenen, nach unzähligen gescheiterten Vermittlungsversuchen und zuletzt vier zähen Verhandlungsjahren kann nun eine neue Ära beginnen. Oder sollte man besser sagen: könnte?

Kolumbiens Staatspräsident Juan Manuel Santos und Rodrigo Londoño, der Anführer der linken Guerillaorganisation Farc, unterzeichneten jedenfalls einen 297 Seiten dicken Vertrag, der den ältesten bewaffneten Konflikt der westlichen Hemisphäre offiziell beendet. Bis ins letzte Detail wurde die Zeremonie in der kolumbianischen Küstenstadt Cartagena de Indias am Montagabend durchgeplant. Für die Unterschriften von Santos und Londoño, besser bekannt unter seinen Kampfnamen Timoleón Jiménez oder "Timochenko", wurde eigens ein Kugelschreiber aus einem Maschinengewehrprojektil gefertigt. Darauf ist der Satz eingraviert: "Die Kugeln schrieben unsere Vergangenheit - die Bildung schreibt unsere Zukunft."

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:"Haben die schönste aller Schlachten gewonnen: den Frieden in Kolumbien"

220 000 Tote, fünf Millionen Vertriebene: Das ist die Bilanz des mehr als 52 Jahre langen Guerillakrieges in Kolumbien. Nun haben sich die Regierung und die Farc auf einen Friedenspakt verständigt.

Es handelt sich um einen Akt von größter symbolischer Kraft, den man ohne Zweifel als "historisch" bezeichnen darf. Über diesem Symbol schwebt allerdings auch eine sehr konkrete Ungewissheit. Die Kolumbianer müssen auf ihre friedliche Zukunft noch eine Woche warten. Mindestens.

Das Wort "Columbexit" geistert durch die Medien. Auch den Brexit hielt niemand für möglich

Manch einer sagt: Nach rund 19 000 Kriegstagen komme es auf ein paar Tage mehr oder weniger auch nicht mehr an. Fest steht aber auch, dass der Friede auf dem Papier wertlos bleibt, wenn am kommenden Sonntag doch noch irgendetwas schiefgehen sollte. An diesem 2. Oktober 2016, dem mutmaßlichen Schicksalstag Kolumbiens, soll das Volk in einem Referendum über eine Frage abstimmen, die so einfach klingt und für viele doch so schwer zu beantworten ist: Ja oder Nein?

Nahezu alle Umfragen deuten darauf hin, dass es für das Ja reichen wird, also für die Annahme des Friedensvertrags. Kaum ein unabhängiger Beobachter rechnet mit einem anderen Ergebnis. Vielleicht auch deshalb, weil es so schwer vorstellbar ist, was das bedeuten würde: alles auf null, die Fortsetzung des Krieges. Das kann niemand ernsthaft wollen. Allerdings weiß man auch in Kolumbien, dass solche Referenden letztlich unberechenbar sind. Das Wort "Brexit" geistert als düstere Vorahnung durch das Land. Vereinzelt wird schon mit Wortspielen wie "Colombexit" experimentiert.

Laut den Demoskopen ist der scheinbar komfortable Vorsprung für die Zustimmung zum Friedensabkommen zuletzt wieder geschrumpft. Der Staatsakt von Cartagena dient deshalb vor allem als Höhepunkt der von Präsident Santos angeführten Werbekampagne für das Ja. Es gibt einige Spekulationen darüber, weshalb ausgerechnet das ehemalige Piratennest an der Karibikküste für diese bedeutungsschwere Zeremonie ausgewählt wurde - und nicht etwa die Hauptstadt Bogotá.

Zunächst einmal liegt es wohl daran, dass der historische Altstadtkern Cartagenas heute das unumstrittene touristische Zentrum Kolumbiens ist und schlichtweg die Infrastruktur bietet, um 2500 Gäste zu beherbergen, die von 2700 Soldaten geschützt werden. Neben den Rebellenführern der Farc und mehreren Hundert Opfervertreten des Bürgerkriegs wurden auch mindesten 15 Staatschefs und 27 Außenminister aus aller Welt sowie der UN-Generalsekretär Ban Ki Moon erwartet. Laut offiziellen Angaben aus Bogotá soll die Wahl Cartagenas auch eine Hommage an den katalanischen Jesuiten San Pedro Claver sein, der hier im 17. Jahrhundert afrikanischen Sklaven half. Claver gilt als Schutzheiliger Kolumbiens, als Patron der Menschenrechte.

Die Zeitung El País will aus diplomatischen Kreisen erfahren haben, dass die Ortswahl aber auch mit einem Patron dieses Friedensvertrags zusammenhängt, der es mit den Menschenrechten nicht immer so genau nimmt: Kubas Staatschef Raúl Castro. Demnach sollen ihm seine Ärzte davon abgeraten haben, in die Höhenluft von Bogotá (2600 Meter über dem Meer) zu reisen. Der greise Castro, 85, ist aber ein unerlässlicher Bestandteil dieser Friedens-Show. Unter seiner Aufsicht kam im kubanischen Havanna das beispiellose Abkommen zwischen der konservativen Santos-Regierung und den marxistisch-leninistischen Rebellen erst zustande.

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:Kolumbiens Regierung und Farc-Rebellen unterzeichnen Friedensvertrag

Präsident Santos und Farc-Chef "Timochenko" beenden damit offiziell die seit über 50 Jahren andauernden Kämpfe. Das Abkommen muss noch in einer Volksabstimmung gebilligt werden.

Explizit nicht unter den geladenen Gästen von Cartagena war Kolumbiens früherer Staatspräsident Álvaro Uribe, der Vorgänger von Santos. Uribe ist heute der Wortführer der Friedensgegner. Im abgeriegelten Cartagena kann er den feierlichen Akt der Versöhnung weniger stören, als er es in Bogotá vermocht hätte, auch das dürfte bei der Wahl eine Rolle gespielt haben. Uribes Chance, diesen Friedensvertrag noch zu stoppen, bietet sich am kommenden Sonntag beim Referendum.

Santos, 65, und Uribe, 64, sind ehemalige Weggefährten. Als einstiger Verteidigungsminister Uribes stand der heutige Friedensbringer Santos noch im Ruf eines Falken. Er organisierte unter anderem eine blutige Großoffensive gegen die Farc. Nachdem er seinen politischen Ziehvater 2010 als Präsident abgelöst hatte, vollzog er eine radikale Kehrtwende. Heute sind die beiden erbitterte Gegner, die für unterschiedliche Zukunftsentwürfe Kolumbiens stehen. Aus Sicht Uribes sind die Farc-Rebellen vor allem Mörder und Terroristen, denen man mit militärischen Mitteln eine Kapitulation aufzwingen müsse. Santos argumentiert, dass genau dieser Versuch 52 Jahre lang gescheitert ist, er behandelte die Guerilla zuletzt wie eine von mehreren Kriegsparteien (zu der auch die rechten Paramilitärs sowie Teile der Armee gehören) und setzte auf Friedensdiplomatie.

Ex-Präsident Uribe versteht es, die Vorbehalte in der Bevölkerung geschickt auszunutzen

Sein Vertrag von Havanna ist notwendigerweise auf Kompromissen gebaut, die für viele Kolumbianer eine Zumutung darstellen. Den circa 7000 verbliebenen Untergrundkämpfern der Farc wurde eine Amnestie in Aussicht gestellt. Falls sie ihre Taten gestehen, kommen ihre Anführer wohl größtenteils ohne Gefängnisstrafen davon, andernfalls drohen ihnen bis zu 20 Jahren Haft. Die Regierung Santos spricht von einer "Übergangsjustiz", Uribe wettert gegen die "Straflosigkeit". Aus Mangel an Alternativen hat Santos den Frieden über die Gerechtigkeit gestellt - oder zumindest über das Gerechtigkeitsempfinden von Millionen Kolumbianern. Genau das aber macht das in Cartagena unterzeichnete Papier beim Referendum angreifbar.

Viele Befürworter des Friedens lasten Santos an, dass er sich überhaupt auf diese Volksabstimmung eingelassen hat. Sie trage zur weiteren Spaltung bei - weil sie den Friedensprozess politisiere. Der Populist Uribe versteht es jedenfalls, die allgemeinen Vorbehalte geschickt auszunutzen. Er setzt darauf, dass Rache einfacher ist als Vergebung. Und er weiß: Er ist im Volk immer noch populärer als Santos.

© SZ vom 27.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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