Süddeutsche Zeitung

Kohleausstieg:Am Rande des Kraters

Der Hambacher Forst muss nun doch nicht den Baggern des Tagebaus weichen. Doch viele Waldbesetzer trauen der Vereinbarung nicht - und in den Nachbarorten gibt es zwar neue Gewinner, aber auch Verlierer.

Von Christian Wernicke, Morschenich-Alt

Hubert Kappert ist noch einmal zurückgekommen. Seine ehemaligen Nachbarn wollen dem alten Herrn mit der grauen Schirmmütze helfen, "nur schnell ein paar Kleinigkeiten abzuholen" aus seinem leeren, längst verlassenen Haus. Eine Lampe etwa, und ein paar Topfpflanzen. Das soll noch mit "nach drüben". Drüben, so nennt Kappert den schmucken, verklinkerten Neubau, den der pensionierte Dreher fünf Kilometer weiter südlich für sich und seine Schwester auf eine Wiese gestellt hat. Dort, wo gerade "Morschenich-Neu" aus dem Boden wächst. "Ich war ja gezwungen wegzuziehen", sagt Kappert und steckt trotzig beide Fäuste in die Taschen seiner beigen Cordhose: "Aber mein Zuhause bleibt hier."

Hier, das ist Morschenich-Alt. Hier kam Hubert Kappert vor 86 Jahren zur Welt, hier baute er vor 50 Jahren sein Eigenheim, Unterstraße Nummer 16. Dann rückten die riesigen Bagger immer näher, inzwischen stehen sie einen Kilometer nördlich des Dorfes. Dort, wo die Unterstraße am Rande des Hambacher Forstes endet, ragt aus dem Tagebau so ein Ungetüm in den blauen Himmel. Ja, man dürfe ihn "einen Heimatvertriebenen" nennen, sagt Kappert. Vor zwei Jahren hat er Haus und Garten an den Energiekonzern RWE verkauft, zwei Tage vor Weihnachten zog er aus: "Nur, wenn ich gewusst hätte, was jetzt passiert, dann wäre ich hiergeblieben."

Morschenich ist ein Geisterdorf. 28 Häuser des einstigen 500-Seelen-Ortes sind noch bewohnt. Vor Fenster und Türen wurden Spanplatten genagelt, die Pfarrkirche ist bereits entweiht, die Toten vom Friedhof wurden umgebettet. Der Ortsteil der Stadtgemeinde Merzenich sollte der Braunkohle weichen, das war in NRW beschlossene Sache. Dann begannen 2018 die Proteste für Klima und Hambacher Wald, die Kohlekommission empfahl 2019 eine Wende - und am Montag dieser Woche bestätigte auch RWE: Morschenich, das Dorf hinterm "Hambi", darf doch bleiben. Nur kommt das für die Menschen hier zu spät, die Umsiedlung ins neue Dorf ist fast vollendet. "Es kann nur ein Morschenich geben", sagt Ortsvorsteher Michael Dohmes, "und das ist drüben." Da gebe es kein Zurück mehr.

Die Berliner Vereinbarung zum Kohleausstieg hat neue Gewinner geschaffen. Und Verlierer. Zu Letzteren zählen die noch 1500 Bewohner von fünf Dörfern am Rande des zweiten Tagebaus im Rheinischen Revier: Weil sie für die Braunkohle von Garzweiler II weichen sollen, planen Umweltgruppen bereits neue Proteste. Aber auch unter den mutmaßlichen Gewinnern am und im Hambacher Forst gärt Misstrauen. Die Waldbesetzer werden bleiben, sie haben ihre Baumhäuser besser denn je ausgestattet: mit Öfen, Fenstern aus Hartplastik, Solarpanels auf dem Dach und mit Laufstegen in 15 Meter Höhe. "Unser Protest hier geht weiter", sagt ein Aktivist mit blondem Vollbart und grüner Strickmütze, der sich Mike nennt, "und in den Dörfern bei Garzweiler geht es jetzt erst los." Und außerdem sei da auch noch Datteln IV, das Steinkohlekraftwerk, das militante Klimaschützer bereits zum "zweiten Hambi" erkoren.

Eindeutig verloren ist Kerpen-Manheim. Die Hälfte der Gemäuer ist zertrümmert, das Gemeindehaus, in dem der frühere Rennfahrer Michael Schumacher einst seine Hochzeit feierte, ist weg. Das Dorf wird abgebaggert, RWE braucht die Erdmassen, um die steilen Böschungen des Tagebaus abzuflachen und zu stabilisieren. Überraschend gerettet hat der Hambi-Widerstand jedoch den "Erftlandring", jene legendäre Kartbahn, auf der die Schumacher-Brüder zu Rennfahrern heranwuchsen. Jubeln mag man noch nicht im Shop des Kart-Clubs ("Wir glauben das erst, wenn wir das schriftlich von RWE haben!"). Momentan rast ohnehin niemand über den vereisten Asphalt. "Aber wir hoffen wieder", murmelt ein Angestellter, der das Laub wegbläst.

Hoffnung, die hegt auch Georg Gelhausen wieder, der Bürgermeister der Gemeinde Merzenich. Der CDU-Mann hat vier harte Tage hinter sich: Im Widerspruch zu den Berliner Beschlüssen hatte RWE-Chef Rolf Martin Schmitz vorigen Donnerstag verbreitet, auch Morschenich-Alt werde - wie Manheim - "weiterhin abgebaggert". Gelhausen war entsetzt, in seinem Kalender stand längst der Termin für Morschenichs Wiedergeburt: Das Geisterdorf soll als "Ort der Zukunft" wiederauferstehen. Aus Sorge, alles könne noch platzen, habe er ständig auf sein Handy gestarrt und gebangt, "dass da der Anruf kommt: ,Nee, wir kommen doch nicht nach Morschenich-Alt.'"

Am Montag endlich korrigierte sich RWE, und am Dienstag konnte Gelhausen - gleichsam als Lohn der Angst - in der alten Schützenhalle von Morschenich miterleben, wie das Geld floss für die Zukunft. Ein Staatssekretär verteilte Schecks an Start-ups sowie an das Forschungszentrum Jülich im Gesamtwert von 25 Millionen Euro, um die Kohleregion nunmehr als "Bio-Ökonomie" aufblühen zu lassen.

Ein Modellprojekt beginnt nur fünf Autominuten vom alten Dorf entfernt. Bagger werden am Rande des Tagebaus bis zu sechs Meter hoch Erde aufschichten, um Pflanzen für karge Böden zu züchten. Das könnten nachwachsende Rohstoffe wie Disteln und Gräser sein, aus denen sich dann Schmierstoffe oder besondere Fasern entwickeln ließen. "Der Hambacher Forst soll in einigen Jahrzehnten ein Symbol sein für nachhaltiges Wirtschaften", sagt Ulrich Schurr vom Forschungszentrum Jülich.

Ein weiter Weg. Hubert Kappert plagen kleine Schritte. Seit dem Einzug hat er es nicht geschafft, seinen Namen aufs Klingelschild zu schreiben. Nur ein Pappschild klebt an der Tür. Als wolle er "drüben" nie ankommen.

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SZ vom 23.01.2020/mkoh
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