Prozessauftakt zum Fall Köthen:Tödlicher Zufall

Prozess um tödliche Auseinandersetzung in Köthen

Einer der Angeklagten im Dessauer Landgericht.

(Foto: dpa)
  • Markus B. starb in Köthen, nachdem er einen Streit zwischen mehreren Flüchtlingen schlichten wollte.
  • Zwei Afghanen müssen sich deshalb vor dem Landgericht Dessau-Roßlau wegen gefährlicher Körperverletzung und Körperverletzung mit Todesfolge verantworten.
  • Nach den Vorfällen in Chemnitz und Aufmärschen von Rechtsextremen hat der Fall auch politische Relevanz.

Von Antonie Rietzschel, Dessau-Roßlau

Die Entschuldigungen kommen wie ein Schwall über die Lippen von Ezatullah M. "Ich möchte der Familie mein Bedauern aussprechen. Es tut mir leid, dass dieser Unfall passiert ist. Ich weiß, wie es ist, einen lieben Menschen zu verlieren", sagt der 17-Jährige, während er von einem zerknitterten Blatt Papier abliest. M. hat sich dagegen entschieden, die Entschuldigung in seiner Heimatsprache Dari vorzutragen und vom Dolmetscher übersetzen zu lassen. Im Gerichtssaal reiht er die deutschen Wörter fast atemlos aneinander. Sie sind schwer zu verstehen, und doch treiben sie der kleinen, rundlichen Frau, die ihm gegenüber sitzt, die Tränen in die Augen.

Es ist die Mutter von Markus B. Ihr Sohn starb am Abend des 8. Septembers 2018 in Köthen, Sachsen-Anhalt, offenbar nachdem er einen Streit zwischen mehreren Flüchtlingen schlichten wollte. Die Familie von Markus B. verlor einen geliebten Menschen. Und die Stadt Köthen geriet mit ihren 28 000 Einwohnern in die Schlagzeilen, weil rechtsextreme Gruppen den Tod des 22-Jährigen missbrauchten. Zu einem spontan angemeldeten "Schweigemarsch" kamen 2500 Menschen, darunter bekannte NPD-Politiker und Neonazis, die vom "Rassenkrieg gegen das deutsche Volk" sprachen.

Stadt und Land reagierten schnell, um Verhältnisse wie in Chemnitz zu verhindern, wo Rechtsextreme den Tod eines Deutsch-Kubaners instrumentalisierten. Polizei und Justiz informierten über aktuelle Ermittlungsergebnisse und widersprachen offensiv angeblichen Zeugenaussagen, die in sozialen Netzwerken kursierten. Auch das Justizministerium schaltete sich ein. Dennoch hielt sich das Gerücht, Markus B. sei von Afghanen ermordet worden, selbst als bekannt wurde, dass er an einem Herzinfarkt verstarb. Womöglich ausgelöst durch einen angeborenen Herzfehler und den Stress um die Auseinandersetzung. Dennoch müssen sich Ezatullah M. und sein Freund Hedajatullah H. vor der Jugendkammer des Landgerichts Dessau-Roßlau wegen gefährlicher Körperverletzung und Körperverletzung mit Todesfolge verantworten.

Der Staatsanwaltschaft zufolge soll der 18-jährige Hedajatullah H. im Streit einen Landsmann geschlagen haben. Als Markus B. dazwischenging, so die Anklageschrift, bekam er von Ezatullah M. einen Schlag ins Gesicht und ging zu Boden. Hedajatullah M. soll ihm dann noch einen Tritt verpasst haben. Die Familie von Markus B. tritt im Prozess als Nebenkläger auf. Beide Angeklagte stritten am ersten Prozesstag jegliche Schuld am Tod von Markus B. ab. Ezatullah M. spricht von einem "tragischen Unfall".

Tatsächlich sieht es derzeit so aus, dass Markus B. durch reinen Zufall in eine Auseinandersetzung geriet, die sich an einem Beziehungsstreit entzündet hatte. Gleichzeitig hat der Fall politische Relevanz. Vorsitzende Richterin, Staatsanwaltschaft und Anwälte verwenden deswegen sehr viel Zeit, das Geschehen in allen Details zu rekonstruieren. Keine leichte Aufgabe, wie die Einlassungen der Angeklagten zeigen.

Ungenauigkeiten und Widersprüche

Ezatullah M. spricht von anfänglicher "Partystimmung", die an dem Abend des 8. Septembers 2018 geherrscht habe. Zu Hause hätten er und Hedajatullah H. gemeinsam mit einem weiteren Freund zwei Flaschen Wodka getrunken. Anschließend seien sie auf dem Weg zum Stadtfest gewesen. Das "Kuhfest" wird vom örtlichen Karnevalsverein ausgerichtet. Auf dem Weg seien sie zwei Bekannten begegnet, einer schwangeren Frau und einem jungen Afghanen. Die beiden Angeklagten hätten die junge Deutsche gefragt, von wem das Kind sei.

Ezatullah M. beschreibt die Begegnung als sehr zufällig. Hedajatullah H. erklärt dagegen, er habe die werdende Mutter gemeinsam mit seinem Freund aufgesucht, um sie zur Rede zu stellen. Es kursierten Gerüchte, wonach nicht, wie von der Frau behauptet, der beste Kumpel von Hedajatullah H. der Vater des Kindes sei. Auf einem Spielplatz in Köthen kam es zum Streit. Den Aussagen zufolge bestätigte die junge Frau den Verdacht, wonach ein gemeinsamer Bekannter der Vater sei. Eben jener saß neben ihr auf der Bank. Er soll, darin sind sich die Angeklagten einig, Hedajatullah H. beleidigt haben. Daraufhin schubste er den Landsmann von der Bank, sie wälzten sich auf dem Boden.

Die Angeklagten sagen übereinstimmend aus, dass sie anschließend von einer Gruppe Deutscher angegriffen wurde. Sie widersprechen sich jedoch in der Schilderung der Attacke. Während Ezatullah M. vor Gericht vorgibt, sich nicht erinnern zu können, woher die Männer gekommen seien, berichtet sein Freund, dass sich in Sichtweite mehrere Männer aufgehalten hätten, mit Bierflaschen in der Hand. Der Aussage von Hedajatullah H. zufolge kamen sie herüber als sie sahen, dass sich die beiden Männer auf dem Boden wälzten. H. sagt, einer der Deutschen habe versucht, ihm ein Knie in den Bauch zu rammen.

Ezatullah M. wiederum sprach von Männern, die mit Holzlatten bewaffnet auf sie losgegangen wären. Ansonsten ist seine Schilderung der Auseinandersetzung sehr ungenau. Sein Freund will inmitten der Rangelei einen Mann wahrgenommen haben, der ihn leicht schubste - er habe das als Geste wahrgenommen, wegzurennen. Was er schließlich auch tat. War der Mann Markus B.? Die Frage können die Angeklagten nicht beantworten, sie kannten ihn nicht, hatten ihn in der Stadt noch nie gesehen. Hedajatullah H. bestreitet, das Opfer geschlagen oder getreten zu haben. Auch Ezatullah M. sagt, er habe nicht zugeschlagen, einen Tritt will er nicht gesehen haben. Vom Tod von Markus B. habe er selbst erst im Krankenhaus erfahren. "Es war der Schock meines Lebens", sagt er.

Anmerkung der Redaktion In der Regel berichtet die SZ nicht über ethnische, religiöse oder nationale Zugehörigkeiten mutmaßlicher Straftäter. Wir weichen nur bei begründetem öffentlichen Interesse von dieser im Pressekodex vereinbarten Linie ab. Das kann bei außergewöhnlichen Straftaten wie Terroranschlägen oder Kapitalverbrechen der Fall sein oder bei Straftaten, die aus einer größeren Gruppe heraus begangen werden (wie Silvester 2015 in Köln). Ein öffentliches Interesse besteht auch bei Fahndungsaufrufen oder wenn die Biografie einer verdächtigen Person für die Straftat von Bedeutung ist. Wir entscheiden das im Einzelfall und sind grundsätzlich zurückhaltend, um keine Vorurteile gegenüber Minderheiten zu schüren.

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