Süddeutsche Zeitung

Sondierungspapier:Worauf sich SPD, Grüne und FDP schon festgelegt haben

Veränderung und eine umfassende Modernisierung des Staates versprechen sie: Schon vor dem Eintritt in Koalitionsverhandlungen haben die Ampel-Partner ein Programm umrissen. Der Überblick.

Von Cerstin Gammelin und Jens Schneider, Berlin

In die Koalitionsverhandlungen geht es mit einem Versprechen. Eine "umfassende Erneuerung" streben SPD, Grüne und FDP an: "Uns eint, dass wir Chancen in der Veränderung sehen." Die Parteien mit unterschiedlichen Traditionen wollen ein innovatives Bündnis schmieden und "einen Beitrag leisten, politische Frontstellungen aufzuweichen". Dazu gehört die Feststellung, dass es für sie keine kleinen und großen Parteien gebe, sondern ausdrücklich "gleichberechtigte Partner auf Augenhöhe".

Diese Vorfestlegungen haben sie formuliert:

Den Staat digitalisieren, die deutsche Einheit vollenden

SPD, Grüne und FDP proklamieren den Aufbruch hin zu einem "digitalen Staat, der vorausschauend für die Bürgerinnen und Bürger arbeitet", um das Leben einfacher zu machen. Verwaltungs-, Planungs- und Genehmigungsverfahren sollen beschleunigt werden, die Verfahrensdauer mindestens halbiert werden. In der Bundesregierung sollen die Kompetenzen neu geordnet werden - das könnte bedeuten, dass die Koalition ein Digitalministerium plant.

Mit Blick auf Ostdeutschland wird die Aufgabe formuliert, die innere Einheit sozial und wirtschaftlich zu vollenden. Dabei will man Erfahrungen der Ostdeutschen, die auch mit Brüchen und Enttäuschungen verbunden waren, für die anstehenden großen Transformationsprozesse in ganz Deutschland nutzen.

Früher aus der Kohle raus, kein Tempolimit

Der Leitsatz der Klimapolitik: "Wir sehen es als unsere zentrale gemeinsame Aufgabe, Deutschland auf den 1,5 Grad Pfad zu bringen, so wie es der Pariser Klimavertrag und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorgeben". Es folgt ein Maßnahmenbündel - jedoch ohne Preisschild: 2022 soll ein "Klimaschutz-Sofortprogramm mit allen notwendigen Gesetzen, Verordnungen und Maßnahmen" beschlossen werden, alle werden mitmachen müssen, Verkehr, Bauen und Wohnen, Stromerzeugung, Industrie und Landwirtschaft. Der Ausbau der erneuerbaren Energien soll "drastisch" beschleunigt, alle geeigneten Dachflächen künftig für Solarenergie genutzt werden - verpflichtend bei gewerblichen Neubauten. Für die Windkraft an Land werden zwei Prozent der Landesflächen ausgewiesen, die Kapazitäten auf See "erheblich" gesteigert.

Aus der Kohleverstromung will man "idealerweise" bis 2030 aussteigen. Vom CO₂-Preis ist nicht die Rede, nur der europäische Emissionshandel soll im Sinne des EU-Programms "Fit for 55" überarbeitet werden. Die EEG-Umlage soll im Laufe der Legislatur entfallen. Man folgt der Vorgabe der EU-Kommission, von 2035 an nur noch CO₂-neutrale Fahrzeuge zuzulassen - aber: ein generelles Tempolimit soll es nicht geben. Die Landwirtschaft soll nachhaltiger, sozialer und umweltverträglicher werden. "Für Transparenz beim Einkaufen soll eine Haltungskennzeichnung sorgen."

Höherer Mindestlohn im ersten Jahr

Die SPD hält ihr wichtigstes Versprechen: "Wir werden den gesetzlichen Mindestlohn im ersten Jahr in einer einmaligen Anpassung auf zwölf Euro pro Stunde erhöhen. Im Anschluss daran wird die Mindestlohnkommission über die etwaigen weiteren Erhöhungsschritte befinden." Mini- und Midijobs sollen verbessert werden. "Wir erhöhen die Midijob-Grenze auf 1600 Euro. Künftig orientiert sich die Minijob-Grenze an einer Wochenarbeitszeit von 10 Stunden zu Mindestlohnbedingungen. Sie wird dementsprechend mit Anhebung des Mindestlohns auf 520 Euro erhöht."

SPD, Grüne und FDP betonen den Gleichklang von Sicherheit und Flexibilität in der Arbeitswelt. "Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind ebenso wie Unternehmerinnen und Unternehmer bereit, in der Zeit des Umbruchs neue Wege zu gehen, aber sie erwarten auch Sicherheit, um sich auf Lernprozesse einlassen zu können." Die Parteien streben flexiblere Arbeitszeitmodelle an. Die Tarifautonomie soll gestärkt werden, "dies befördert auch die nötige Lohnangleichung zwischen Ost und West". Selbständigkeit soll attraktiver und (Solo-)Selbständige besser abgesichert werden.

Bürgergeld statt Hartz IV

Die Parteien der Ampel wollen die "gesetzliche Rente stärken" und das Mindestrentenniveau von 48 Prozent sichern. Rentenkürzungen soll es nicht geben, auch keine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters. Zur Stabilisierung des Systems ist der Einstieg in die partielle Kapitaldeckung der gesetzlichen Rentenversicherung mit einem Kapitalstock aus Haushaltsmitteln vorgesehen. Das System der privaten Altersvorsorge soll grundlegend reformiert werden. Gedacht ist an den Aufbau eines öffentlich verantworteten Fonds.

Anstelle der bisherigen Grundsicherung durch Hartz IV soll ein Bürgergeld eingeführt werden. Es soll geprüft werden, ob großzügigere Regelungen zu Schonvermögen und zur Überprüfung der Wohnungsgröße wie während der Corona-Krise fortgesetzt werden. Zuverdienstmöglichkeiten werden verbessert.

Ausdrücklich wird festgehalten, dass die gesetzliche und die private Kranken- und Pflegeversicherung erhalten bleiben.

"Starke Kinderrechte" ins Grundgesetz

In der Familienpolitik will sich eine Ampel-Koalition auf die Förderung von Kindern konzentrieren - mit einem Fokus "auf die Kinder, die am meisten Unterstützung brauchen". Bisherige Leistungen sollen in einem eigenen Kindergrundsicherungsmodell gebündelt und automatisiert ausgezahlt werden. Die drei Parteien haben sich das Ziel gesetzt, "starke Kinderrechte" im Grundgesetz zu verankern. Länder und Kommunen wollen sie dauerhaft bei der Digitalisierung des Bildungswesens mit einem "Digitalpakt 2.0" unterstützen.

400 000 neue Wohnungen pro Jahr

Um mehr bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, wird das Ziel formuliert, dass pro Jahr 400 000 neue Wohnungen gebaut werden. Davon sollen 100 000 mit öffentlicher Förderung entstehen. Die Kosten für den Wohnungsbau will die Ampel-Koalition durch "serielles Bauen, Digitalisierung, Entbürokratisierung und Standardisierung" senken. Mit Blick auf die Knappheit an Wohnungen in Ballungsgebieten sollen die geltenden Mieterschutzregelungen evaluiert und verlängert werden.

Um den Kauf von Immobilien mit Geld aus illegalen Quellen zu bekämpfen, soll ein Versteuerungsnachweis für gewerbliche Immobilienkäufer aus dem Ausland sowie ein Verbot des Erwerbs von Immobilien mit Bargeld eingeführt werden.

Ein "modernes Einwanderungsland"

Die drei Parteien betonen, dass Deutschland ein modernes Land mit großer Vielfalt und unterschiedlichen Lebensentwürfen sei. Die Rechtsordnung soll der gesellschaftlichen Realität angepasst werden. Mit Blick auf Migration heißt es: "Deutschland ist ein modernes Einwanderungsland." Es soll ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht geschaffen werden. Und: Wer sich gut integriert hat, soll schneller die Sicherheit bekommen, bleiben zu können. Zur Gewinnung von qualifizierten Fachkräften wird die Einführung eines Punktesystems geplant.

Innenpolitisch versprechen die Ampel-Parteien einen entschlossenen Kampf "gegen Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus, Islamismus, Linksextremismus, Queer-Feindlichkeit und jede andere Form der Menschenfeindlichkeit".

Wählen ab 16

Die künftigen Koalitionäre versprechen, das Wahlrecht zu überarbeiten, um die zuletzt immer stärker gewachsene Zahl der Abgeordneten im Bundestag zu begrenzen. Das Wahlalter für die Wahlen zum Deutschen Bundestag und Europäischen Parlament soll auf 16 Jahre gesenkt werden.

Forschen und gründen

Der Wirtschaftsstandort Deutschland soll wettbewerbsfähiger gemacht, die Beschäftigung erhöht werden. Unternehmen wie Beschäftigte sollen unterstützt, Gründergeist, Unternehmertum, Mittelstand und Handwerksbetriebe gefördert werden. SPD, FDP und Grüne planen "eine qualifizierte Fachkräftestrategie".

Ein Push für die Forschung: 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sollen dafür aufgewendet werden. Mitarbeiterkapitalbeteiligung soll steuerlich attraktiver werden, privates Kapital mithilfe öffentlicher Förderbanken, die Risiken absichern, herangeholt werden. "Die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) soll stärker als Innovations- und Investitionsagentur wirken", die Bundesagentur für Sprunginnovation ausgebaut werden. Die Parteien wollen "regelbasierten Freihandel" stärken und den europäischen Binnenmarkt.

Soli-Zuschlag bleibt unerwähnt

Versprechen gebündelt: SPD, FDP und Grüne wollen private wie öffentliche Investitionen in Klimaschutz, Digitalisierung, Bildung und Forschung sowie die Infrastruktur steigern - ohne konkrete Zahlen zu nennen. Bisher hatten Grüne und SPD von zusätzlich 500 Milliarden Euro an staatlichen Investitionen gesprochen, die FDP wollte private Investitionen steigern. Die Schuldenbremse soll weiter gelten. Angaben über Einnahmen oder Ausgaben enthält das Papier nicht.

Der umstrittene Soli-Zuschlag wird nicht erwähnt, offensichtlich warten die Parteien auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wo die FDP geklagt hat. Die nötigen finanziellen Mittel sollen mit dem Kampf gegen Steuerhinterziehung, Geldwäsche und Steuervermeidung beschafft werden und über die globale Mindestbesteuerung sowie das Streichen von "überflüssigen, unwirksamen und umwelt- und klimaschädlichen Subventionen und Ausgaben".

Superabschreibungen ja, Steuererhöhungen nein

Die Vermögensteuer ist vom Tisch: "Wir werden keine neuen Substanzsteuern einführen und Steuern wie zum Beispiel die Einkommen-, Unternehmens- oder Mehrwertsteuer nicht erhöhen". Die Konjunktur soll mit "Superabschreibungen" für Investitionen in Klimaschutz und Digitalisierung angeschoben werden. Wichtige Nachricht für überschuldete Kommunen: Der Erlass strukturwandelbedingter Altschulden soll "in gemeinsamer Verantwortung mit den Ländern" geprüft werden.

Europa ja, neue Stabilitätsregeln nein

SPD, Grüne und FDP bekennen sich zur Europäischen Union, zur deutsch-französischen Partnerschaft sowie dem Weimarer Dreieck. Die Werte und ihre Rechtsstaatlichkeit sollen "nach innen wie außen" geschützt werden, nationale Armeen enger kooperieren. Sorgen vor einer neuen deutschen Austeritätspolitik werden nur vage zerstreut: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt soll nicht angetastet werden - eine klare Absage an entsprechende Pläne in Brüssel.

U-Ausschuss Afghanistan und Abrüstungsoffensive

Die Evakuierungsmission des Afghanistan-Einsatzes soll in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss aufgearbeitet werden. Die Partner wollen die "Verfahren zur Flucht-Migration" neu ordnen; Asylverfahren, die Verfahren zur Familienzusammenführung und die Rückführungen sollen beschleunigt werden. Sie fordern eine "abrüstungspolitische Offensive"; eine "restriktive Rüstungsexportpolitik" soll über eine EU-Rüstungsexportverordnung durchgesetzt werden.

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