Koalitionsverhandlungen:"Jetzt beginnt die Mund-zu-Mund-Beatmung"

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Langsame Annäherung: Union und FDP einigen sich in der Atompolitik. Strittig sind nach wie vor der Umfang der Steuerentlastungen und die Zukunft des Gesundheitsfonds.

Union und FDP haben sich im Grundsatz auf längere Atom-Laufzeiten und den Ausbau der Öko-Energien geeinigt. Bundeswirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) kündigte an, die Atomkraft solle nur eine Übergangstechnologie sein. "Wir haben einen großen Schwerpunkt, und das ist ein wesentlicher Schwerpunkt, auf die regenerativen Energien gelegt." Sie würden als die Zukunft gesehen. Das Energie-Papier der künftigen Koalition sei fertig besprochen. Die genauen Laufzeiten der Atommeiler stehen aber noch nicht fest.

Sind sich in der Atompolitik einig: Angela Merkel, Hessens Ministerpräsident Roland Koch, FDP-Chef Guido Westerwelle und Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff. (Foto: Foto: ddp)

Hunderte Atomkraftgegner "umzingelten" die Verhandlungen in Berlin mit einer Kundgebung. Im niedersächsischen Hitzacker - in der Nähe des Atommüll-Zwischenlagers Gorleben - demonstrierten rund 450 Globalisierungskritiker und Atomkraftgegner.

Für den Ausbau erneuerbarer Energien müsse noch Zeit überbrückt werden, sagte Guttenberg. "Für diese Zeit wird man auch als Brückentechnologie die Kernkraft noch benötigen." Aber es sei das Ziel von Schwarz-Gelb, dass sie "irgendwann verzichtbar ist". Einzelheiten und Details sollten in den kommenden Tagen geklärt werden. Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) sagte: "Wir sind gut weitergekommen in der Energiefrage." Ein paar Punkte stünden noch unter Finanzierungsvorbehalt. Dazu zählt unter anderem die künftige Solarförderung.

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) hält Gespräche mit den Energiekonzernen für notwendig, um Vereinbarungen zu treffen. Bezifferte Laufzeiten sollen nach bisherigen Plänen noch nicht in den Koalitionsvertrag. Nach vorläufigen Plänen soll der längere Weiterbetrieb vor allem an strenge Sicherheitsstandards geknüpft werden.

Die Bundesbürger sollen nach dem Willen der künftigen Koalitionäre nicht übermäßig mit Kosten für Strom und Heizung belastet werden. "Es kommt (...) darauf an, dass Energie in Deutschland bezahlbar bleibt", sagte FDP-Vize Rainer Brüderle. "Das ist ein wichtiger Standortfaktor für die wirtschaftliche Entwicklung, aber auch für die Bürger." Die Steuerpolitiker von Union und FDP wollen, dass der Bund den Großteil der Milliarden-Zusatzgewinne der Energiekonzerne aus den längeren Atom-Laufzeiten abschöpft. Ein Teil soll in einen Fonds oder eine Stiftung zur Förderung der Öko-Energien fließen.

Um die künftige Steuer- und Finanzpolitik hat es laut Bild am Sonntag heftigen Streit in den Koalitionsgesprächen gegeben. Der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff habe die FDP-Forderungen nach spürbaren Steuersenkungen und die Vorschläge zu deren Gegenfinanzierung als "in hohem Maß unseriös", "realitätsfern" und als finanzpolitischen "Blindflug" bezeichnet, berichtete die Zeitung unter Berufung auf Teilnehmer der Gespräche.

Keine Steuersenkungen auf Pump

Der stellvertretende CDU-Vorsitzende habe damit gedroht, er werde ein solches Programm "als Ministerpräsident Niedersachsens im Bundesrat nicht mittragen".

Strittig sind nach wie vor der Umfang der Steuerentlastungen, ein neues Steuersystem und die Zukunft des Gesundheitsfonds als Sammelstelle für Einnahmen. Es werde keine Steuersenkungen auf Pump geben, versicherte NRW-Ministerpräsident Rüttgers. Die drei Parteichefs - Angela Merkel (CDU), Horst Seehofer (CSU) und Guido Westerwelle (FDP) - begannen am Nachmittag mit Verhandlungen im kleinsten Kreis, um Kompromisslinien auszuloten.

Klarheit soll geschaffen werden

Jetzt beginne die "Mund-zu-Mund-Beatmung", sagte FDP-Generalsekretär Dirk Niebel. Rüttgers kündigte an, die neue Koalition werde Klarheit nicht nur über Steuersenkungen, sondern auch über Kürzungen schaffen. "Die Leute werden in wenigen Tagen wissen, was auf sie zukommt."

Bei den Verhandlungen ging es um die künftige Atompolitik und den Gesundheitsfonds. Die Vorsitzenden wollen die Ergebnisse mit ihren engsten Parteiführungen absprechen, bevor sie am kommenden Mittwoch wieder in großer Runde abschließend verhandelt werden. Die CSU berief für den 26. Oktober bereits einen Sonderparteitag ein, um die Vereinbarung abzusegnen.

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CDU-Vize Rüttgers sagte nach Abschluss der Verhandlungen im Kreis der 27 Spitzenvertreter der drei Parteien: "Ich kenne keinen in der Verhandlungsrunde, der nicht sicher ist, dass wir in der kommenden Woche eine gemeinsame Lösung für einen Koalitionsvertrag haben werden." FDP-Generalsekretär Niebel meinte: "Wir sind alle vom Willen beseelt, zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen." Auch CDU- Generalsekretär Ronald Pofalla sprach von "einer großen Anzahl an Gemeinsamkeiten".

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Die drei Parteien ringen noch um die Finanzierung ihrer geplanten Steuerreform und loten Einsparungen aus. Rüttgers dringt auf eine solide Gegenfinanzierung: "Wir wollen keine Steuersenkungen, die nicht gedeckt sind." Im Gespräch sind Steuerentlastungen für Bürger und Firmen im Umfang von mindestens 20 Milliarden Euro. Die Gegenfinanzierung ist aber noch offen.

Empört wies die FDP die Darstellung von Familienministerin Ursula von der Leyen zurück, wonach sich beide Seiten auf den Erhalt des Gesundheitsfonds verständigt hätten. Diese Äußerungen gäben allein die Sicht der Union wieder, sagte FDP-Chefunterhändler Philipp Rösler. "Es ist noch gar nichts entschieden", räumte auch Unionsfraktionschef Volker Kauder ein. Von der Leyen hatte in der Nacht zum Samstag erklärt: "Wir sind übereingekommen, dass wir den Gesundheitsfonds weiterentwickeln." Kauder bekräftigte das Ziel der Union, am Fonds festzuhalten. Diese Geldsammelstelle ermögliche den Wettbewerb, betonte er.

Bundeswirtschaftsminister Guttenberg und FDP-Vize Rainer Brüderle betonten, in den nächsten vier Jahren sollten der Mittelstand gestärkt und Wachstumskräfte durch Bürokratieabbau freigesetzt werden. Ziel sei es, den Bürokratie- Aufwand für Unternehmen und Bürger um 25 Prozent zu senken, sagte Guttenberg.

"Rückwärtsgewandte Politik"

Grünen-Chefin Claudia Roth warf Union und FDP derweil eine "rückwärtsgewandte Politik" vor. "Im Kleingedruckten des Koalitionsvertrages werden wir massive Zumutungen finden", sagte sie dem Hamburger Abendblatt . Der geplante Ausstieg aus dem Atomkonsens sei "ein scharfer Angriff auf den inneren Frieden des Landes".

Ungeachtet der Fortschritte bei den Koalitionsverhandlungen regt sich in der Union Unmut: Es mehren sich die Stimmen nach einer raschen Aufarbeitung des schlechten Abschneidens von CDU/CSU bei der Bundestagswahl. Die Parteinachwuchsorganisation Junge Union forderte gar die "unverzügliche" Einberufung eines CDU- Bundesparteitags. Ein entsprechender Initiativantrag fand beim JU- Deutschlandtag in Münster breite Zustimmung.

"Schlag ins Gesicht"

Auch Saarlands Ministerpräsident Peter Müller (CDU) forderte am Wochenende Konsequenzen aus dem schwachen Abschneiden der Union. Das Wahlergebnis müsse sorgfältig und intensiver als nach der Wahl 2005 analysiert werden, sagte er der Bild am Sonntag. Die Union kam Ende September auf 33,8 Prozent, es war das zweitschlechteste Ergebnis seit 1949. Die CSU verlor 0,9 Punkte, die CDU 0,5 Punkte im Vergleich zu 2005.

Auslöser des JU-Initiativantrages - getragen von mehr als zehn Landesverbänden - war unter anderem die kurzfristige Absage von Bundeskanzlerin Merkel und die damit ausgebliebene Auseinandersetzung mit dem Wahlergebnis. Während der Vorsitzende der Jungen Union, Philipp Mißfelder, von einer Enttäuschung sprach, bezeichneten Teile des Unionsnachwuchses die Absage als "Schlag ins Gesicht".

Stoiber verteidigt Merkel

Bayerns Ex-Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU), der in Münster für Merkel als Redner eingesprungen war, verteidigte die Absage. Er zeigte sich überzeugt, dass sich die CDU-Chefin nicht der nötigen Wahlanalyse entziehen werde. Die rund 300 Delegierten mahnte der CSU- Ehrenvorsitzende, die Bedeutung der Koalitionsverhandlungen anzuerkennen: "Wir haben immerhin nach elf Jahren erstmals wieder eine bürgerliche Bundesregierung. Die Terminsituation ist also eigentlich gut."

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