Koalitionsverhandlungen:Im Beichtstuhl ist sich jeder selbst der Nächste

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Während die Parteichefs die Streitpunkte ausloten, stört Ministerpräsident Wulff mit Attacken gegen die FDP die schwarz-gelbe Harmonie. Die Gespräche über die Finanzen wurden am Sonntag ergebnislos vertagt. Die Bürger wissen indes längst, von wem sie regiert werden wollen - und von wem nicht.

Union und FDP setzen in Berlin ihre Koalitionsverhandlungen fort. Im sogenannten Beichtstuhlverfahren soll unter anderem über den Umfang der geplanten Steuersenkungen in der nächsten Legislaturperiode gesprochen werden. Die FDP war mit Forderungen nach Entlastungen in Höhe von 35 Milliarden Euro angetreten, die Union peilt 15 Milliarden Euro an.

Bei ihren zentralen Streitthemen nähern sich die Parteien bereits in kleinen Schritten einer Einigung für einen Koalitionsvertrag an. In der Atompolitik und zur Gesundheitsreform gab es bei den Verhandlungen der drei Parteichefs in kleiner Runde am Samstag erste Übereinstimmungen. Dagegen gab es heftigen Streit in der großen Koalitionsrunde über die Steuerpolitik. Die Unterhändler erklärten, die Gespräche würden in der nächsten Woche weitergehen, jedoch gebe es bereits Fortschritte. FDP-Finanzpolitiker Hermann Otto Solms sagte nach den über vierstündigen Beratungen zum Thema Steuern und Finanzen: "Wir haben deutliche Fortschritte gemacht, aber am Ziel sind wir noch nicht."

Auch die Laufzeit der Atomkraftwerke und die Zukunft des Gesundheitsfonds bleiben nach wie vor strittig. Darüber werden die Parteivorsitzenden Angela Merkel (CDU), Horst Seehofer (CSU) und Guido Westerwelle (FDP) vermutlich in den letzten Verhandlungsrunden vom kommenden Mittwoch an entscheiden.

Ringen um Gesundheitsfonds

Die künftigen Koalitionäre konnten sich im Streit über die Finanzierung des Gesundheitssystems ebenfalls noch nicht einigen, kommen einer Lösung aber näher. "Wir sind, glaube ich, einen großen Schritt vorangekommen", sagte die Unions-Verhandlungsführerin für Gesundheit, Ursula von der Leyen (CDU). "Wir haben in vielen Schritten jetzt auch Gemeinsamkeiten gefunden."

FDP-Gesundheitsexperte Philipp Rösler hält wie CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer eine Einigung in der kommenden Woche für machbar. Ramsauer sprach von mehreren Varianten, die Grundlage einer möglichen Einigung sein könnten. Es gehe darum, die Finanzierung langfristig kalkulierbar zu machen und dass Spitzenmedizin weiter unabhängig vom Geldbeutel möglich sei.

Für die gesetzlichen Krankenkassen wird ein Defizit von 7,5 Milliarden Euro erwartet. Von der Leyen sagte, die kurzfristigen Probleme im Gesundheitswesen seien mit dem Fonds lösbar.

Streit über Steuern

Bereits am Samstag hatte es in der großen Koalitionsrunde heftigen Streit über die Steuerpolitik gegeben. Vor allem Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) soll die FDP-Seite frontal angegriffen haben. Von einem finanzpolitischen "Blindflug" sprach er mit Blick auf die liberalen Steuerentlastungspläne. Westerwelle und sein Finanzexperte Hermann Otto Solms reagierten heftig. Derweil versuchen CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer und andere Spitzenpolitiker den Zoff herunterzuspielen.

Mit der Auseinandersetzung zwischen Wulff - er habe das FDP-Steuerprogramm als "in hohem Maße unseriös und realitätsfern" bezeichnet - sowie den Liberalen erlebten die schwarz- gelben Gespräche ihren bislang größten Eklat, wie Teilnehmer berichteten. Die FDP verlangt neben spürbaren Steuerentlastungen auch eine Steuerreform, die zu einem niedrigeren, einfacheren und gerechteren Tarif führt. Ohne Zugeständnisse an dieser Stelle ist sie nicht bereit, einen Koalitionsvertrag zu unterzeichnen.

Einig ist sich Schwarz-Gelb, dass die Atompolitik eine Übergangstechnologie ist. Die FDP verlangt nach wie vor, dass über eine Verlängerung der Laufzeiten von Atommeilern in jedem Einzelfall nach Sicherheitskriterien entschieden werden soll. CDU-Vize Jürgen Rüttgers sagte nach Abschluss der Verhandlungen im Kreis der 27 Spitzenvertreter der drei Parteien: "Ich kenne keinen in der Verhandlungsrunde, der nicht sicher ist, dass wir in der kommenden Woche eine gemeinsame Lösung für einen Koalitionsvertrag haben werden."

FDP-Generalsekretär Dirk Niebel meinte: "Wir sind alle vom Willen beseelt, zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen." Sein CSU-Kollege Alexander Dobrindt: "Aus unserer Sicht kann man sagen, dass alles im Laufe der nächsten Woche behebbar ist." Die CSU berief für den 26. Oktober bereits einen Sonderparteitag ein, um die Vereinbarung abzusegnen.

Überwältigende Mehrheit für zu Guttenberg

Strittig ist nach wie vor auch die von der FDP geforderte Aussetzung der Wehrpflicht. Keine Einigung gab es bislang über die Kürzung teurer Beschaffungsprogramme für die Bundeswehr. Unklar ist zudem die Zukunft des Entwicklungsministeriums und in welchem Ressort die Zuständigkeit für die Europapolitik liegen soll.

Außerdem soll in den nächsten Tagen über die Besetzung der Ministerien entschieden werden . Für die Bundesbürger steht laut einer repräsentativen Emnid-Umfrage bereits fest, von wem sie am liebsten in den kommenden vier Jahren regiert werden. Demnach befürwortet eine überwältigende Mehrheit von 71 Prozent der Deutschen, dass Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) auch dem neuen Kabinett von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) angehört. Auf Platz zwei und drei folgen die Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) mit 66 Prozent und FDP-Chef Guido Westerwelle mit 65 Prozent.

Abgeschlagen auf den hinteren Plätzen landeten CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla (Nein: 48 Prozent), FDP-Vize Rainer Brüderle (Nein: 46 Prozent), CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer (Nein: 54 Prozent) und der niedersächsische FDP-Wirtschaftsminister Philip Rösler (Nein: 46 Prozent).

"Die Grünen werden täglich konservativer"

Bewegung gibt es auch in Opposition: So hat Linken-Fraktionschef Gregor Gysi in einem Interview die Erwartungen an eine Kooperation mit SPD und Grünen gedämpft. Die SPD wisse nicht, was sie will, und "die Grünen werden täglich konservativer" sagte Gysi der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir plädiert dagegen für eine größere Offenheit seiner Partei gegenüber dem bürgerlichen Lager. Er sehe "es gar nicht ein, dass wir unseren Blick verengen und nur das linke Spektrum sehen", sagte Özdemir der Welt am Sonntag. Vielmehr müssten die Grünen mit ihren "Inhalten Agenda-Setting betreiben und dann ausloten, wer sich darauf einlässt". Daher sei "es auch völlig zwecklos, jetzt darüber zu spekulieren, mit wem wir 2013 koalieren".

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