Süddeutsche Zeitung

Koalitionspoker:Verhandeln um Kopf und Kragen

Bei den Sondierungs- und Koalitionsgesprächen gibt es diesmal viel mehr Unbekannte als die letzten Male. Auch deshalb wird es eine neue Regierung wohl frühestens zu Weihnachten geben. Denn um gut zu verhandeln, müssen die Parteien selbst erst einmal wissen, was sie wollen.

Ein Kommentar von Heribert Prantl

Die SPD wird verhandeln und verhandeln und verhandeln. Niemand soll sagen können, dass sie sich vor der Pflicht gedrückt und die Verantwortung gescheut habe. Die SPD, die eine alte und geschichtsbewusste Partei ist, leidet nämlich, neben vielem anderen, an einem Wilhelm II.-Trauma.

Der blöde, aber geschichtsmächtige Satz von Kaiser Wilhelm über die Sozialdemokraten als "vaterlandslosen Gesellen" steckt der Partei noch in den Knochen. Wenn es um Staatstreue, um Verantwortung für das große Ganze geht, will sie sich daher von niemandem übertreffen lassen; auch wenn es ihr weh tut.

Und eine große Koalition kann der SPD sehr weh tun. Die Zeit des politischen Aussitzens der Probleme in der Regierung ist nämlich zu Ende, ein neues Griechenland-Paket ist fällig, und die große Rentenreform, die auf Druck von Merkel nun schon jahrelang weggeschoben wurde, ist es auch; die Westrentner werden für die Ostrentner zurückstecken müssen.

Das wäre kein Zuckerschlecken für einen SPD-Finanzminister und einen SPD-Sozialminister. Gleichwohl: Die SPD wird so verhandlungsbereit sein, dass, siehe oben, niemand sagen kann, es liege an ihr, wenn es keine große Koalition geben sollte.

Alle Parteien werden verhandeln, verhandeln, verhandeln

Gute Verhandlungstaktik besteht darin, die Antworten zu provozieren, die man haben will. Das gilt für die SPD und die Merkel-Union in gleicher Weise. Dazu aber muss man wissen, was man haben will. Die Merkel-Union ist mit einer schwarz-grünen Koalition mittel- und langfristig besser bedient als mit einer schwarz-roten, weil sich damit für die CDU/CSU neue strategische Perspektiven öffnen.

Die Grünen befinden sich zwar in einer Phase des Umbruchs; und bei einem grünen Parteitag wäre die Koalition mit den Schwarzen, vorsichtig gesagt, unpopulär. Aber bei ihrem gutsituierten bürgerlichen Publikum kämen die Grünen damit durchaus an. Und bei mindestens zwei Hauptaufgaben der neuen Bundesregierung könnte Grün wohltuend Einfluss nehmen: zum einen bei der Energiewende, bei der es überall hakt; zum anderen bei der Sanierung der einst gerühmten, mittlerweile verrottenden deutschen Infrastruktur, bei Straßen, Schienen und Brücken also.

Die SPD wiederum tut sich schwer, die Grünen zu Merkel ziehen zu lassen. Wie soll denn dann 2017 ein von der SPD-geführtes Dreierbündnis ausschauen? Als Eckturm eines solchen Dreierbündnisses bleiben die Grünen für die SPD unverzichtbar. Merkel wiederum hätte es, wenn sie mit Grün koaliert, nicht nur mit einem, sondern mit zwei Koalitionspartnern zu tun: Am Kabinettstisch müsste sie mit Grün, im Bundesrat mit der SPD Kompromisse schliessen. Und Hannelore Kraft, die NRW-Ministerpräsidentin, könnte sich dort zur großen Gegenspielerin aufschwingen.

Die Koalitionsverhandlungen sind diesmal Rechnungen mit viel mehr X-Faktoren als sonst. Alle Parteien werden also verhandeln und verhandeln. Eine neue Regierung wird es wohl erst, wenn überhaupt, zu Weihnachten geben. Ob sie dann ein Geschenk ist, muss sich zeigen.

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SZ vom 05.10.2013/liv
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