Koalitionskrise:Auch mal wieder über was anderes reden als Flüchtlinge

Koalitionskrise: Stefan Liebich, Bundestagsabgeordneter der Linken, Annalena Baerbock, Parteichefin der Grünen, und Juso-Chef Kevin Kühnert

Stefan Liebich, Bundestagsabgeordneter der Linken, Annalena Baerbock, Parteichefin der Grünen, und Juso-Chef Kevin Kühnert

(Foto: dpa (3))

Soziale Gerechtigkeit zum Beispiel. Grünen-Chefin Baerbock, Juso-Chef Kühnert und der Linken-Abgeordnete Liebich diskutieren über Strategien gegen den Rechtsruck - und Rot-Rot-Grün als letzte Hoffnung.

Von Hannah Beitzer, Berlin

Selbst das kitschigste Liebeslied kann im richtigen Moment ein politischer Seitenhieb sein. Die Frau mit der Gitarre singt: "I think I wanna marry you", grinst dabei, das Publikum in der Berliner Kulturbrauerei lacht lauthals und die drei auf der Bühne lächeln nur ein bisschen: Stefan Liebich, Bundestagsabgeordneter der Linken, Annalena Baerbock, Parteichefin der Grünen, und Juso-Chef Kevin Kühnert haben bis vor wenigen Minuten miteinander diskutiert über eine "Hoffnung: Mitte-Links".

Liebich hat die Veranstaltung organisiert, will wissen: Wird das doch noch irgendwann was mit einer rot-rot-grünen Koalition? Und um eines gleich zu sagen: Es ist nicht so, dass sich die drei auf der Bühne nicht mögen. Im Gegenteil. Sie duzen sich, sie sind in fast allen Fragen einer Meinung, übrigens auch mit den Leuten im Publikum, die fast nach jeder Antwort, die einer der Politiker gibt, laut klatschen.

Rot-Rot-Grün hätte gerade keine Mehrheit

Das Interessanteste an dieser Veranstaltung ist, dass sie in so augenfälligem Kontrast dazu zu stehen scheint, was draußen passiert. Die Union hat sich im Streit um die Migrationspolitik fast zerlegt, zur Stunde muss sich die SPD verkürzt gesagt überlegen, ob sie eine weitere Verschärfung des Asylrechts mitträgt oder die Regierung platzen lässt. Ein viel beklagter Rechtsruck, der sich auch in den politischen Mehrheitsverhältnissen wiederspiegelt. Seit der letzten Bundestagswahl hätten SPD, Linke und Grüne ohnehin nicht mehr genügend Sitze, um gemeinsam eine Koalition zu bilden.

Liebich beklagt das: "Wir hatten ja schon bessere Zeiten. Es hat bloß keiner bemerkt." Er spielt auf die letzte Wahlperiode an, als es noch eine rot-rot-grüne Mehrheit gegeben hätte: Warum hat die SPD nicht schon lange vor der Wahl die Koalition mit der Union aufgelöst und ein neues Bündnis versucht? Kevin Kühnert, der SPD-Vertreter in der Runde, kann dazu auch nicht viel sagen. Weiß ja eh jeder, dass er so gut wie nie mit seiner Parteispitze einer Meinung ist. Auch Liebich weiß das und sagt: "Na ja, das ist jetzt Hätte-Hätte-Fahrradkette".

Kühnert ist sich aber mit Liebich und Baerbock einig, dass es ein großer Fehler gewesen ist, dieses Bündnis so lange auszuschließen. Er habe oft an den Wahlkampfständen erlebt, dass die Leute eigentlich ganz angetan gewesen seien von den Ideen der SPD, sagt Kühnert: "Aber dann kam immer die Frage: Und mit wem wollt ihr das durchsetzen?" Der Verzicht auf Rot-Rot-Grün sei da nicht nur gegenüber dem Wähler fatal. Auch für die Union sei er "eine Lebensversicherung für ihren Verbleib in der Bundesregierung" gewesen. Kühnert fordert deswegen, dass die drei Parteien sofort Gespräche auf Spitzenebene beginnen sollten. "Wenn es die Mehrheitsverhältnisse irgendwann wieder gibt, fände ich es unverantwortlich zu sagen: Wir brauchen jetzt aber acht Jahre Vorlauf."

Weltoffenheit und Minderheitenschutz vs. soziale Gerechtigkeit?

Auch Annalena Baerbock wünscht sich das - und begründet es unter anderem mit den Erfahrungen der Jamaika-Verhandlungen. Sie habe an diesen aus der Überzeugung heraus teilgenommen, dass es in einer möglichen Regierung ein linkes Gegengewicht zur Union und zur FDP geben müsse, habe dann jedoch feststellen müssen: "Wir haben da über Wochen aneinander vorbeigeredet." Union und FDP auf der einen und die Grünen auf der anderen Seite unterscheide das Weltbild, die Lebensrealität. Das sei mit den linken Parteien anders, es gebe viele Überschneidungen. "Wenn ich da zum Beispiel über Gender rede, dann kommt nicht die ganze Zeit: Was is'n das?"

Also die Linken da, die Rechten da? So einfach ist das beileibe nicht. Denn der Konflikt, der die deutsche Gesellschaft spaltet, er spiegelt sich auch in den linken Parteien wider. Nicht nur die SPD ringt um Haltung in der Flüchtlingsfrage. Zielsicher zieht Moderatorin Sabine Rennefanz, Journalistin der Berliner Zeitung, den jüngsten Gastbeitrag von Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht in der Welt aus der Tasche und zitiert fein lächelnd einige Passagen.

"Weltoffenheit, Antirassismus und Minderheitenschutz sind das Wohlfühl-Label, um rüde Umverteilung von unten nach oben zu kaschieren und ihren Nutznießern ein gutes Gewissen zu bereiten", heißt es dort, "Ehe für alle und sozialer Aufstieg für wenige, Frauenquote in Aufsichtsräten und Niedriglöhne dort, wo vor allem Frauen arbeiten, staatlich bezahlte Antidiskriminierungsbeauftragte und staatlich verursachte Zunahme von Kinderarmut in Einwandererfamilien."

"Perfide" findet das Kevin Kühnert. Wagenknecht lasse den Eindruck entstehen, es gebe keine Einheit zwischen der sogenannten Identitätspolitik und sozialer Gerechtigkeit. So, als säßen die jeweiligen benachteiligten Gruppen auf einer Wippe: Wenn für die eine etwas getan wird, geht es für die andere bergab. "Am Ende sind Schwule und Lesben schuld, dass viele Ärmere nicht zu ihrem Recht gekommen sind."

Weniger über Flüchtlinge reden, mehr über Busse

Liebich beeilt sich zu sagen, dass die Positionen Wagenknechts nicht die Mehrheitsverhältnisse innerhalb der Linken widerspiegelten. "Man darf nicht den Eindruck entstehen lassen, dass das eine gegen das andere aufgewogen wird." Die gesellschaftliche Linke brauche die Diskussion über soziale Gerechtigkeit. "Aber wir brauchen auch die Diskussionen über das dritte Geschlecht und andere Themen, die heute gerne verächtlich gemacht werden."

Annalena Baerbock will in Richtung von Liebich wissen: "Wenn Ihr über Links redet: Meint Ihr eine weltoffene Gesellschaft oder nicht?" Sie spielt auf die Forderung Wagenknechts nach einer restriktiveren Flüchtlingspolitik an. "Vor unserem Auge sterben Leute in Syrien. Vor unseren Grenzen ertrinken Babys", sagt sie. "Unsere Partei hat anders als SPD und Grüne noch nie einer Asylrechtsverschärfung zugestimmt", sagt Liebig spitz. "Bewertet uns doch bitte nach unseren Taten."

"Die Leute sind abgehängt"

Er gibt aber zu, dass es innerhalb seiner Partei viele unterschiedliche Positionen gebe. Er berichtet auch von Wählern im Osten Deutschlands, die schon zu Beginn der 90er gesagt hätten: Wir finden es gut, was ihr macht. Wir wählen euch auch. Aber die Ausländer müssen weg. "Die wählen heute vielleicht AfD", sagt Liebich. Wie damit umgehen? Den lautesten Applaus erhält er, als er in Richtung von Kühnert und Baerbock sagt: "Wir haben alle drei den Job, auch mal wieder über was anderes zu reden." Statt über Flüchtlinge nämlich über soziale Gerechtigkeit. "Die Grenzen verlaufen zwischen Arm und Reich. Und nicht zwischen Drinnen und Draußen."

Baerbock, die in Brandenburg wohnt, sieht das ähnlich. "Die Leute, von denen es immer heißt, sie fühlen sich abgehängt, die sind abgehängt", sagt Baerbock. Weil in ihren Dörfern kein Bus mehr fährt, der Krankenwagen ewig braucht, die Senioren keinen Platz mehr zum Treffen und die Kinder keine Schule mehr haben. Und: "Hätten wir die vergangenen Monate Tag und Nacht über dem Pflegenotstand gebrütet und 63 Punkte entwickelt, das wäre was!" Das Publikum lacht. Liebich und Baerbock finden also: Busse müssen her, eine gute Versorgung, Kitas und Schulen. Das kostet natürlich Geld. Mit einem Finanzminister Olaf Scholz, der an der schwarzen Null hänge wie sein Vorgänger Schäuble, allerdings schwer zu machen - das geht nun in Richtung Kühnert.

"Ich bin ja nun gezwungen, mich Tag für Tag in die Denkmuster dieser Leute reinzuversetzen", sagt der und hat die Lacher gleich wieder auf seiner Seite. Um deren hanseatisches Kaufmannsethos zu umgehen, schlägt er vor: "Wir dürfen nicht bei Haushaltszahlen anfangen, sondern wir müssen ein Bild der Gesellschaft zeichnen." Also in erster Linie: Die Menschen fragen, was sie sich wünschen: Busse, mehr Sicherheit im öffentlichen Raum, bessere Schulen, bessere Kitas, was auch immer. "Und am Schluss kleben wir ein Preisschild drauf."

Erst ein Bild der Gesellschaft, dann das Preisschild

Kühnert möchte auch noch weiter über Flüchtlinge reden. Denn er sieht auch Migration als einen Aspekt sozialer Gerechtigkeit. "Wenn wir in Europa immer über Freizügigkeit reden, wie können wir denn dann zu dem Schluss kommen, dass das anderen perspektivisch nicht auch möglich ist?" In den vergangenen Jahren sei der Fokus zu sehr auf Kriegsflüchtlingen und politisch Verfolgten auf der einen und hochqualifizierten Zuwanderern auf der anderen Seite gelegen. "Der Großteil bewegt sich aber dazwischen", sagt er. Und auch die hätten einen legitimen Anspruch, ihre Lebenssituation zu verbessern.

Das ist die Position des Abends, die den viel zitierten "offenen Grenzen" am nächsten kommt. Ausgerechnet von demjenigen Teilnehmer, dessen Partei gerade mit der Union verhandelt, wie die deutschen Grenzen dichter werden können. Die "Hoffnung: Mitte-Links" ist vor diesem Hintergrund allenfalls eine Zukunftsvision. Aber eine, mit deren Umsetzung man besser heute als morgen beginnen muss. Darin immerhin sind sich an diesem Abend alle einig.

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