Die Bundesrepublik taumelt in eine Rezession, eine rechtsextreme Partei wird stärker, die große Regierungspartei verliert bei Landtagswahlen, und dann tut sich da noch im Bundeshaushalt diese Lücke auf von mehreren Milliarden – in D-Mark. Wir sind im Herbst 1966 und kurz vor dem ersten Bruch einer Regierungskoalition im Bundestag.
Nur ein Jahr zuvor hat Bundeskanzler Ludwig Erhard noch triumphiert. Seine CDU hat bei den Wahlen gemeinsam mit der CSU die absolute Mehrheit im Bundesparlament nur knapp verfehlt. Eigentlich gestärkt setzt Erhard die Koalition mit der FDP fort, die ihn bereits 1963 ins Amt gewählt hatte. Doch im Herbst 1966 zeichnet sich ab, dass das deutsche Wirtschaftswunder der vergangenen Jahre ein abruptes Ende findet. Die Konjunktur schwächelt – und noch tiefer als die Wachstumszahlen stürzt das Ansehen des Kanzlers, sogar in der eigenen Union. Die Unzufriedenheit findet ein Thema: das Haushaltsloch.
Schon 1966 wehrt sich die FDP gegen Steuererhöhungen
Wie es stopfen? CDU und CSU wollen Steuern erhöhen, Mineralöl- und Tabaksteuer etwa, Erhard schlägt eine Ergänzungsabgabe vor. Die FDP lehnt Steuererhöhungen damals so strikt ab wie heute ein Lockern der Schuldenbremse. Im Bundeshaus der Hauptstadt Bonn schwirrt es, eine Fraktionssitzung jagt das nächste Koalitionsgespräch. „Die Koalitionskrise kann zur Kanzlerkrise werden“, titelt die Süddeutsche Zeitung am 26. Oktober – und soll recht behalten. Zwar findet sich am selben Tag nach einer zehnstündigen Sitzung im Bundeskabinett ein Kompromiss, in dem die FDP-Minister Steuererhöhungen als letzten Ausweg nicht ausschließen – eine „Atempause für die Regierung Erhard“, so die SZ.
Doch diese Pause währt nur eine Nacht. In der Bild-Zeitung lesen die FDP-Abgeordneten in großen Buchstaben: „FDP fällt wieder um.“ Deren Fraktion will den Kabinettskompromiss nicht mittragen und zwingt die Minister so, aus der Regierung zurückzutreten. „FDP sprengt die Koalition“, meldet die SZ tags darauf.
Erhard macht noch zwei Wochen weiter. Doch dann stürzen ihn die eigenen Leute und wählen den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kurt Georg Kiesinger zu ihrem neuen Kanzlerkandidaten.
Unterdessen verhandelt in Bonn jeder mit jedem: Kiesingers Union mit der SPD, aber eben auch SPD mit FDP. Sozialdemokraten und Liberale hätten eine knappe Mehrheit, um Erhard mit einem konstruktiven Misstrauensvotum abzuwählen und den SPD-Chef Willy Brandt zum Kanzler zu machen. Doch sie wäre wohl zu dünn, um Stabilität zu versprechen – die vielen umso nötiger erscheint, da bei Landtagswahlen in Hessen und Bayern die rechtsextreme NPD in die Parlamente einzieht.
Trotz Vorbehalten gegenüber dem ehemaligen NSDAP-Mitglied Kiesinger geht die SPD die Große Koalition mit der Union ein. Zu Neuwahlen kommt es nicht. Das Kabinett Kiesinger/Brandt wird bis nach den regulären Wahlen 1969 am Ruder bleiben.
Lambsdorff verfasst 1982 ein Wirtschaftspapier – so wie jetzt Lindner
1982, seit nunmehr 13 Jahren regiert eine sozialliberale Koalition aus SPD und FDP, verbinden sich erneut klassische Elemente einer Koalitionskrise zu einer explosiven Mixtur: Wieder fällt die Bundesrepublik in eine Rezession, die Arbeitslosigkeit steigt stark an. Wieder ist da mit Helmut Schmidt ein Kanzler, der mit seiner eigenen Partei, der SPD, zu kämpfen hat, in der viele den Nato-Doppelbeschluss zur Nachrüstung gegenüber dem sowjetisch beherrschten Ostblock nicht mittragen wollen. Und wieder sind da ein Haushaltsloch und eine Koalition aus zwei Parteien, die höchst unterschiedliche Ideen davon haben, wie es zu füllen ist.
Angesichts der immer deutlicheren Differenzen und dem offenen Liebäugeln der FDP mit einem Koalitionswechsel bittet Kanzler Schmidt Anfang September 1982 den liberalen Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff, seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen aufzuschreiben. Lambsdorff tut das, systematisch von Punkt I bis Punkt VI, wohl wissend, dass ein Großteil seiner Forderungen mit den Sozialdemokraten nicht zu machen sein wird, Einschnitte etwa beim Arbeitslosengeld, in der Sozialhilfe, beim Krankengeld und beim Bafög.
Das später zum „Scheidungspapier“ stilisierte Konzept Lambsdorffs war aber nur Symptom, nicht Grund der Entfremdung zwischen Schmidt und seinen Sozialdemokraten und seinem Vizekanzler und Außenminister Hans-Dietrich Genscher und dessen Liberalen. „Genscher zieht den Schlussstrich“, titelt die SZ ihren Leitartikel am 10. September, da ist Lambsdorffs Papier gerade an Schmidt, aber noch nicht einmal an die Öffentlichkeit gelangt.
Tatsächlich Schluss ist dann eine Woche später, voller gegenseitiger Vorwürfe und Schuldzuweisungen. Noch einmal kommen der Kanzler und sein Wirtschaftsminister am Vormittag des 17. September zu einem Gespräch zusammen, aber da ist längst klar, dass die vier FDP-Minister ihren Rücktritt einreichen.
Die Wähler nehmen der FDP den Koalitionsbruch krumm
Genschers FDP bildet eine neue Koalition mit CDU und CSU. Am 1. Oktober wählt diese Schmidt in einem konstruktiven Misstrauensvotum ab und den CDU-Vorsitzenden und bisherigen Oppositionsführer Helmut Kohl zum Kanzler – aber das Ergebnis zeigt auch, wie der vorangegangene Koalitionsbruch die Liberalen zerreißt. Obwohl Union und FDP zusammen 279 Sitze im Parlament belegen, bekommt Kohl nur 256 Stimmen. Wohl mehr als ein Drittel der FDP-Abgeordneten stimmt gegen ihn. Und auch die Wähler heißen den Wechsel zunächst nicht gut. Bei Landtagswahlen in Hessen und Bayern fliegt die FDP aus den Landesparlamenten.
Diesmal jedoch gibt es Neuwahlen, das haben Kohl und Genscher zum Antritt der neuen Koalition versprochen. Sie bedienen sich eines höchst umstrittenen, doch im Nachhinein vom Bundesverfassungsgericht gebilligten Tricks: Der neue Kanzler stellt am 17. Dezember die Vertrauensfrage, um sie trotz eigener Mehrheit zu verlieren – und um dann Bundespräsident Karl Carstens (CDU) zu bitten, den Bundestag aufzulösen. Im März 1983 gewinnt Kohls Union tatsächlich die Wahl, die FDP schafft es trotz starker Verluste in den Bundestag. Das besonders für Genscher riskante Kalkül ist aufgegangen.