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Koalition:Probleme wie am Fließband: Die Krisenpolitik der Ampel

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Berlin (dpa) - Steigende Preise hier, Entlastungen dort, Tankrabatt und Monatstickets - viele Bürger dürften längst den Überblick verloren haben im Gewirr der Mehrkosten und staatlichen Entlastungen. Doch die Bundesregierung macht es ihnen auch nicht leicht: Seit Wochen verheddern sich SPD, Grüne und FDP selbstdarstellerisch in den Details weiterer Hilfen für die Bürgerinnen und Bürger. Erst beschließen sie mit der staatlichen Gasumlage Zusatzkosten für rund jeden zweiten Haushalt - dann dämpfen sie diese mit einer Steuersenkung wieder. Dass am Ende für viele Menschen ein Minus stehen wird, ist zu erwarten. Und es zeigt eindrücklich, wie es steht um diese Regierungskoalition dreier so unterschiedlicher Parteien.

Die Stimmung in der Bevölkerung jedenfalls ist zunehmend aufgeheizt - was Buh- und Zwischenrufe bei öffentlichen Veranstaltungen von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) zeigen. Mit der Arbeit von Kanzler Olaf Scholz (SPD) sind laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa für die "Bild am Sonntag" 62 Prozent der Bürger unzufrieden, 65 Prozent bewerten die Arbeit der Bundesregierung negativ. Seit Anfang März haben sich die Zahlen deutlich verschlechtert.

Problem 1:

Die Grundüberzeugungen, mit denen SPD, Grüne und FDP der Krise mit Ukraine-Krieg, knappem Gas und hohen Preisen begegnen, unterscheiden sich deutlich. Zwar sagen alle drei, der Staat könne gestiegene Preise für die Bürger nicht zu 100 Prozent auffangen. Doch wer genau soll nun gestützt werden? Auch die, die es aus Sicht vieler gar nicht nötig haben? Lindner und seine FDP nennen drei Gruppen: Bedürftige, die arbeitende Mitte und die energieintensive Wirtschaft. "Für jeden dieser Bereiche brauchen wir passende Instrumente", meint der FDP-Chef.

Oder soll der Staat in erster Linie den wirklich Bedürftigen unter die Arme greifen, denen ein kalter Winter mit offenen Rechnungen droht? Das fordern vor allem Habeck, aber auch viele in der SPD.

Scholz, ganz der über den Differenzen schwebende Vermittler, spricht deshalb gern von einem "Gesamtpaket" - sozusagen der Symbiose zweier Welten, der von Lindner und der von Habeck. Aus den Differenzen etwas Neues zu schaffen, wie sich das die Regierung noch zum Abschluss des Koalitionsvertrags im November vornahm, das klappt nur bedingt: Im zweiten Entlastungspaket bekam Lindner seinen Tankrabatt, die Grünen bekamen ihr 9-Euro-Ticket. Ein wenig hatte man den Eindruck, Profilierung sei den Koalitionspartnern wichtiger als ein stimmiges Gesamtkonzept.

Der nächste Entlastungs-Aufschlag dürfte nicht ganz so umfangreich werden, wahrscheinlich aber enthalten: Steuerentlastungen, Wohngeldreform, Hilfen für Geringverdiener, ein Bürgergeld - plus X, das wird noch verhandelt. "Dann rechnen wir das zusammen und schauen, ob wir uns das leisten können", sagte Scholz beim Sommer-Auftritt in der Bundespressekonferenz. "Mein Gefühl sagt, wir werden das können."

Was zu Problem 2 führt:

Die finanzielle Lage des Bundes ist eine andere als noch zu Zeiten von Scholz als Finanzminister. Nach Rekordschulden wegen der Corona-Pandemie sitzt das Geld nicht mehr so locker, dass man die Unterschiede in der Koalition damit kaschieren könnte. Zumal Lindner fest auf die Einhaltung der Schuldenbremse im kommenden Jahr pocht, die den Ausgaben des Bundes strenge Grenzen setzt.

Scholz muss mehr und mehr als Mittler zwischen zwei Lagern auftreten. Etwa wenn er auf Journalistenfragen Lindners Rückkehr zur strikten Schuldenbremse verteidigt, die viele in seiner Partei und bei den Grünen angesichts der aktuellen Herausforderungen ablehnen. Doch als Kanzler muss der SPD-Politiker auch dafür sorgen, dass das Koalitionsteam hält - und nicht der Eindruck entsteht, hier stünden Grüne und SPD gegen die FDP.

Denn Scheitern ist keine Option für diese Regierung, so sehr es auch knirschen mag. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine lässt Einigkeit sprießen, wo man sie vorher nie vermutet hätte: für Aufrüstung, massiven Windrad-Ausbau und mehr Strom aus klimaschädlicher Kohle. Aber die Krise zwingt die Politik auch zu einer drängenden Entscheidung nach der anderen. Kaum ist das eine Feuer ausgetreten, lodert ein neues.

Gasimporteuren droht die Pleite - dann werden eben Gaskunden für eine Umlage zur Kasse gebeten. Im Wirtschaftsministerium müssen sie solche Konzepte teils in atemberaubender Eile stricken - da kann man plötzlich vor dem Problem stehen, dass auf diese Umlage Mehrwertsteuer anfällt. Es ist klar: Der Staat soll an Extra-Zahlungen der Bürger nicht auch noch mitverdienen. Also Mehrwertsteuer auf den gesamten Gasverbrauch runter. Was erkennbar noch nicht reicht, um die Zusatzbelastung auszugleichen, auch wenn das bei Kanzler Scholz am Donnerstag noch anders klang. Weitere Entlastungen sollen folgen.

Auch wenn Scholz sichtlich bemüht ist, Ruhe auszustrahlen, neuerdings sogar auf Englisch ("You'll never walk alone"), auch wenn er jetzt Turbinen besucht und Steuerentscheidungen zur Gasumlage bekanntgibt, das Kernthema Energie also nicht wie so lange dem Vizekanzler und Politikerklärer Habeck überlässt - der Eindruck, dass die Bundesregierung in der Krise die große gemeinsame Linie verfolgt, drängt sich nicht auf. Dafür sind die Rezepte, die die drei Ampel-Partner aus ihren jeweiligen parteipolitischen Grundüberzeugungen ableiten, schlicht zu unterschiedlich.

Und es geht weiter. Entscheidungen über zusätzliche Entlastungen stehen ins Haus, über Haushaltsmittel für das kommende Jahr und den möglichen verlängerten Betrieb deutscher Atomkraftwerke. Und so bemüht sich etwa Vizekanzler Habeck um Schadensbegrenzung. Beim Tag der offenen Tür in seinem Ministerium betont er am Sonntag, "dass ich total froh bin, dass Olaf Scholz unser Bundeskanzler ist und ich ganz gut und eng und vertraut mit ihm zusammenarbeite". Wichtig sei jetzt "volle Konzentration auf die Herausforderungen, die im Moment da sind, und nicht taktisches Geplänkel wie irgendjemand nicht erfolgreich sein kann oder wie man dem anderen nicht das Schwarze unter dem Fingernagel gönnt". Die Ampel muss weitermachen - oder sich zumindest weiter durchwurschteln.

© dpa-infocom, dpa:220820-99-455221/3

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