Süddeutsche Zeitung

Koalition:Eine Definitionsfrage

Die Bundesregierung streitet über den Türkei-Status - es herrscht Uneinigkeit über Kriterien für ein sicheres Herkunftsland.

Von Jan Bielicki

In der Bundesregierung gibt es offenbar widersprüchliche Einschätzungen zur Lage der Menschenrechte in der Türkei. Noch vor zwei Wochen hatte Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) ausdrücklich versichert, die Bundesregierung sehe die Türkei nicht als sicheren Herkunftsstaat an - als ein Land also, in dem nach den Worten des Grundgesetzes "weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet". In dieser Einschätzung sei er sich einig mit Selmin Çalişkan, der Generalsekretärin der Gefangenenhilfsorganisation Amnesty International, sagte Altmaier bei einem Flüchtlingssymposium in der Evangelischen Akademie Berlin. Es sei aber "unseriös", die Lage der Menschenrechte in der Türkei mit der Frage "zu verwischen", wie Flüchtlinge aus Syrien dort aufgenommen würden, verteidigte er die Vereinbarung mit Ankara, die es der EU erlaubt, abgelehnte Asylsuchende aus Staaten wie Syrien oder Afghanistan in die Türkei zurückzuschicken.

Im Gegensatz zu Altmaier, der Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung ist, schätzt das Auswärtige Amt die Türkei jedoch weiter als sicheren Herkunftsstaat ein. "An dieser Haltung hat sich nichts geändert", schrieb Staatsminister Michael Roth (SPD) in einer Antwort auf eine Anfrage der linken Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke. In dem Schreiben, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt, verweist Roth auf frühere Antworten. Darin hatte die Bundesregierung die Frage, ob sie der Überzeugung sei, dass die Türkei als sicherer Herkunftsstaat zu behandeln ist, kurz mit "Ja" beantwortet. Asylgesuche von Bürgern solcher Länder werden in einem vereinfachten Verfahren behandelt und im Regelfall als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Auslöser der Diskussion ist die Absicht der EU-Kommission, eine europaweit geltende Liste zu erstellen, auf der sichere Herkunftsländer aufgeführt sein sollen. Darauf soll auch die Türkei stehen.

Dieses Vorhaben müsse "sofort beendet werden", fordert Jelpke. Aber "offenkundig, um den türkischen Despoten Erdoğan nicht weiter zu verärgern", halte die Bundesregierung an ihrer "wahnwitzigen Auffassung fest, die Türkei könne als sicherer Herkunftsstaat angesehen werden". Damit brüskiere sie sogar den eigenen Flüchtlingskoordinator, sagt Jelpke, "ein neuerlicher, unerträglicher Kotau" vor dem türkischen Präsidenten.

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Quelle:
SZ vom 11.07.2016
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