Cláudia Agostinho ist 21 Jahre alt und verkörpert plötzlich die Hoffnung von Klimaschützern ihrer Generation. "Wir bekommen viele Nachrichten von Leuten in unserem Alter, die sich für das, was wir tun, bedanken", sagt sie. Postkarten aus der ganzen Welt würden in der portugiesischen Kleinstadt Leiria eintreffen. "Das macht uns sehr glücklich." Cláudia Agostinho, ihre zwei Geschwister Martim und Mariana sowie die drei Freunde Catarina, Sofia und André im Alter zwischen acht und 20 Jahren sind angetreten gegen die Regierungen von 33 europäischen Staaten. Sie wollen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel durchsetzen. Bislang haben sie erstaunlichen Erfolg damit.
Das Engagement der Kinder und Jugendlichen geht auf ein heftiges Feuer im Sommer 2017 zurück, das ihre Heimatregion in Asche verwandelte. 65 Menschen verbrannten oder starben an einer Rauchvergiftung, etwa 200 Menschen wurden teils schwer verletzt. Mehrere Familien hatten versucht, aus ihren Häusern im Auto über die Nationalstraße 236 zu fliehen. Die meisten führte die Flucht in den Tod. Eine Feuerwalze und umgestürzte Bäume versperrten den Weg, Autos samt Insassen verglühten in der Hitze. Portugal verhängte eine dreitägige Staatstrauer, beklagte die schlimmsten Waldbrände in der Geschichte des Landes. Eine vorangegangene Hitzewelle hatte die Brände begünstigt. Als es im Oktober 2017 erneut brannte, starben weitere 45 Menschen. Die Region um Leiria stand unter Schock.
Von dort kommt auch die Anwältin Rita Mota. Sie arbeitet für das Global Legal Action Network (Glan), eine Nichtregierungsorganisation (NGO) aus Irland und Großbritannien, die juristisch für Menschenrechte in aller Welt streitet. Über Freunde und Familie kam Mota mit den sechs Kindern und Jugendlichen in Kontakt, gemeinsam planten sie die Klage vor dem EGMR in Straßburg und reichten sie drei Jahre nach den Bränden ein. "Dies ist der erste Fall dieser Art", sagt Motas irischer Anwaltskollege Gerry Liston, der für Glan die Klage federführend bearbeitet.
Die jungen Leute berufen sich in der Klageschrift darauf, dass die Feuerkatastrophen eine direkte Folge der globalen Erwärmung seien. Sie beschreiben, wie Brände und Hitze ihre Gesundheit beeinträchtigten, Schlafstörungen, Allergien und Atembeschwerden auslösten. Sie hätten kaum mehr einer körperlichen Tätigkeit im Freien nachgehen können, teilweise wären ihre Schulen geschlossen worden. Auch von ihrer Angst spricht die Klageschrift, der Angst, "ihr Leben lang in einem immer heißeren Klima zu leben, was sich auf sie und die Familien, die sie in Zukunft haben könnten, auswirken würde".
Die Straßburger Richter reagierten prompt
Die Klage zielt auf die Artikel 2 und 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention ab, das Recht auf Leben und das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Deshalb müssten die beklagten Staaten ihre Verpflichtungen im Sinne des Pariser Klimaschutzabkommens einhalten, mit dem Ziel, die Erderwärmung deutlich unter zwei Grad Celsius zu halten. Nach Auffassung der Kläger sind die bisher angekündigten Maßnahmen der Regierungen dafür längst nicht ausreichend. Liston meint, in der Europäischen Union zum Beispiel sei eine CO₂-Reduktion bis 2030 von mindestens 65 Prozent nötig, bislang will der Staatenbund 55 Prozent einsparen.
Die Gefahr, mit dieser Klage schnell zu scheitern, war hoch. "Das Gericht hätte leicht Punkte finden können, um den Fall verschwinden zu lassen", sagt Liston. Denn eigentlich müssen Kläger erst den nationalen Gerichtsweg durchlaufen, bevor sie nach Straßburg dürfen. Zudem haben die dortigen Richter so viel zu tun, dass Klagen oft jahrelang in der Schublade schlummern. Sie hätten auch darauf hinweisen können, dass erst der jeweils nationale Rechtsweg beschritten werden müsse, bevor man die Staaten vor dem EMGR verklagen kann. Doch es kam anders.
Die Richter in Straßburg räumten dem Sachverhalt eine erhöhte Dringlichkeit ein. Nach nur etwas mehr als zwei Monaten forderten sie im vergangenen November die 33 Staaten auf, Stellung zu nehmen. Darunter die gesamte EU, aber auch Russland und die Türkei. Für die Bundesregierung hat das Justizministerium den Fall übernommen. Den Antrag aller Staaten gegen den Status der Dringlichkeit wies das Gericht zurück und gewährte nur einen Fristaufschub bis zum 27. Mai 2021.
Anwalt Liston spricht von "sehr ermutigenden Signalen". Er glaubt, die Richter seien geschockt von den Fakten, einen offensichtlicheren Verstoß gegen die Menschenrechte könne es gar nicht geben. Den Kindern und Jugendlichen drohten im Verlauf ihres Lebens "unvorstellbare Hitzewellen", das Risiko verheerender Waldbrände vervierfache sich. Inzwischen beschäftigen sich 14 Glan-Anwälte mit der Klage, finanziert durch eine Crowdfunding-Kampagne, die bislang mehr als 57 000 Euro einbrachte. Daneben bewerben sich Nichtregierungsorganisationen darum, als sogenannte Streithelfer bei Gericht vorsprechen zu dürfen, aus Deutschland etwa Germanwatch oder "Fridays for Future".
"Eine kleine Sensation"
Als Vertreter der NGO Climate Action Network Europe möchte der Juraprofessor und Experte für Umweltrecht aus Bremen, Gerd Winter, dem Verfahren beitreten. Für den 78-jährigen sind die bisherigen Entscheidungen des EGMR "eine kleine Sensation". Die Richter hätten den Fall aus der Masse herausgeholt und Winter glaubt, dass sie den Portugiesen im entscheidenden Punkt recht geben werden: dass sie jetzt schon direkt Betroffene des Klimawandels seien. Dabei stehe auch die Frage im Raum, inwieweit die gegenwärtige Generation die Jungen schützen müsse, damit diese sich künftig noch in der Umwelt bewegen könnten. "Das ist eine große Herausforderung für das Gericht, so etwas gab es bisher nicht", sagt Winter.
Bei den jungen Portugiesen häufen sich Termine und Medienanfragen, ihre Anwälte schotten sie zunehmend ab. In einer E-Mail an die Süddeutsche Zeitung schreibt Cláudia Agostinho, die Regierungen der Länder müssten das tun, was die Wissenschaftler sagen, um ihre Zukunft zu schützen. "Wenn das Gericht zu unseren Gunsten entscheidet, können andere Kinder und junge Erwachsene fortfahren und in ihren Ländern rechtliche Schritte einleiten", hofft sie. Der Weg zu einem Urteilsspruch ist allerdings noch weit und hürdenreich. Die 33 Staaten, darunter Deutschland, halten die Klage für unzulässig.