Süddeutsche Zeitung

Klimapolitik der EU:Erschreckende "Weiter so"-Mentalität

Die Bekämpfung des Klimawandels nimmt für die Regierungschefs der EU nicht die oberste Priorität ein - trotz aller Warnungen und Proteste.

Kommentar von Matthias Kolb, Brüssel

Die Symbolik rund um den EU-Sondergipfel in Rumänien stimmte nur auf den ersten Blick. Vor der Europawahl wollte man Einigkeit präsentieren und mit Bildern aus dem schmucken Sibiu zeigen, dass die EU auch jenseits der Hauptstädte Impulse geben kann. Zu Recht wurde daran erinnert, dass in Osteuropa vor genau drei Jahrzehnten "Millionen Menschen für ihre Freiheit gekämpft" und den Eisernen Vorhang niedergerissen haben.

1989 ist allerdings auch in anderer Hinsicht ein Schlüsseljahr: Etwa die Hälfte des Kohlenstoffdioxids, das die Menschheit jemals in die Atmosphäre geblasen hat, wurde in den vergangenen dreißig Jahren ausgestoßen. Die UN-Experten geben der Welt bis 2030 Zeit, die Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen und das Schlimmste zu verhindern. Angesichts der Tatsache, dass elf Jahre eine kurze Zeit sind und Hunderttausende Europäer seit Monaten jeden Freitag für mehr Klimaschutz demonstrieren, ist die Symbolik von Sibiu verheerend.

Dort begannen Angela Merkel, Emmanuel Macron und Co. ihre Gespräche über die "Strategische Agenda" für die Zeit bis 2024. Wer erwartet hätte, dass die "Bewahrung der Umwelt und die Bewältigung des Klimawandels" oberste Priorität hat, irrte sich: Erwähnt werden diese lediglich im letzten Halbsatz der letzten von zehn Verpflichtungen, auf die sich die Staats- und Regierungschefs in der "Erklärung von Sibiu" geeinigt haben. Gewiss: Nur eine Minderheit liest solche Papiere. Das ändert aber nichts daran, dass der Text eine erschreckende Mentalität des mutlosen "Weiter so" zeigt.

Wer sich wie die "Fridays for Future"-Demonstranten mit den wissenschaftlich erhobenen Daten zum Klimawandel beschäftigt (und nicht ausschließlich genehme Fakten wahrnimmt, wie es der von Europas Politikern zu Recht oft kritisierte Donald Trump tut), kann nur Frust empfinden. Hehre Ziele der Erklärung wie "Wir werden den nächsten Generationen von Europäerinnen und Europäern die Zukunft sichern" oder "Wir werden dort für Ergebnisse sorgen, wo es am wichtigsten ist" wirken wie Hohn, wenn dabei Klimaschutz nicht erwähnt wird.

Ohnehin gibt es kaum ein Ziel der EU-Politik, bei dem Klima keine Rolle spielt. Wer "Fluchtursachen" in Afrika und Nahost bekämpfen will, muss alles tun, um Dürren und Wetterextreme zu vermeiden. Wer an die regelbasierte Ordnung glaubt, sollte eigene Verpflichtungen einhalten - statt wie Deutschland und viele EU-Staaten die Zusagen des Pariser Abkommens zu verfehlen. Niemand hindert die Politiker, mehr in Bahnstrecken zu investieren und Kerosin zu besteuern, damit Flüge nicht künstlich billig bleiben.

In aller Klarheit: Die EU läuft Gefahr, die Jugend zu frustrieren. Schuld ist aber nicht "Brüssel"; die EU-Kommission hat viel vorangetrieben. Verantwortlich sind die nationalen Regierungen. Wenn die Beneluxstaaten mit Franzosen und Skandinaviern mehr Ehrgeiz fordern, haben sie recht.

Sie fordern, im nächsten EU-Haushalt bis 2027 ein Viertel der Ausgaben für umweltfreundliche Projekte zu verwenden. Es ist gut, dass die Bundesregierung die Idee unterstützt, aber Berlin sollte weniger bremsen und anderen Zögerern, etwa in Osteuropa, klarmachen, was auf dem Spiel steht: eine lebenswerte Zukunft auf diesem Planeten. Beim Petersberger Klimadialog hatte die Kanzlerin die Chance dazu. Doch ihre Ankündigung, bis 2050 CO₂-Neutralität in Deutschland zu erreichen, dürfte kaum jemanden wirklich beruhigen.

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SZ vom 13.05.2019/eca
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