Süddeutsche Zeitung

Erderwärmung und Justiz:Die Ära der Klimaschutz-Urteile

Es sieht so aus, als würden Gerichte die Klimakrise selbst in die Hand nehmen. Folgen auf das Shell-Urteil nun Klagen gegen deutsche Unternehmen - zum Beispiel gegen Volkswagen?

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Wahrscheinlich ist es nur Zufall. Während die ganze Welt sich aus einer Großkrise herauskämpft, treffen Gerichte wegweisende Entscheidungen zur Bewältigung der anderen Großkrise. Nach den Inzidenzzahlen müssen auch die Kohlendioxid-Emissionen sinken. Ende April hat das Bundesverfassungsgericht Deutschland zu effektiverem Klimaschutz verurteilt. Und vor wenigen Tagen hat das Bezirksgericht von Den Haag den britisch-niederländischen Konzern Shell dazu verdonnert, den Ausstoß von Kohlendioxid bis 2030 um 45 Prozent im Vergleich zu 2019 zu senken. Sieht ganz so aus, als würden die Gerichte den Klimaschutz nun selbst in die Hand nehmen.

Das niederländische Urteil hat im fossil geprägten Teil der Wirtschaft für beträchtliche Unruhe gesorgt. Zwar ist nicht ausgemacht, dass das Urteil in der nächsten Instanz hält. Aber schon allein die Möglichkeit solcher Urteile wird die betriebswirtschaftliche Risikowahrnehmung verändern. Wie innovativ das Haager Urteil ist, lässt sich am Vergleich zum Klimabeschluss des Verfassungsgerichts illustrieren.

Der Konzern sei für mehr Kohlendioxid-Emissionen verantwortlich als die Niederlande

In Karlsruhe wurde ein Staat verurteilt, seine Politik entschiedener auf die Einhaltung der Klimaziele auszurichten. Ein mutiger Ansatz, weil Richter ins politische Feld übergreifen - zugleich aber leicht nachvollziehbar: Die Bundesrepublik ist dem Schutz der Grundrechte ihrer Bürger verpflichtet, die durch den Klimawandel in Gefahr sind. Und sie hat, was im Beschluss eine große Rolle spielt, das Pariser Klimaschutzabkommen unterzeichnet.

In Den Haag dagegen ist ein Unternehmen verurteilt worden, das weder ein Abkommen unterzeichnet hat noch den Grundrechten verpflichtet ist - zumindest nicht so unmittelbar wie ein Staat. Allerdings ist Shell eben auch kein kleiner Mittelständler. Der Öl- und Gaskonzern sei für mehr Kohlendioxid-Emissionen verantwortlich als die Niederlande, schreibt das Gericht. Und zwar deshalb, weil man nicht nur die Herstellung, sondern auch die Verbrennung seiner Produkte mitrechnen müsse.

Im Kern begründet das Gericht die Reduktionspflicht für Shell mit Schadensersatzregeln, die man aus dem Alltag kennt. Innovativ daran ist, dass das Gericht daraus eine spezielle Sorgfaltspflicht ableitet, die Pflicht des Unternehmens zur Verhinderung von Schäden infolge des Klimawandels. Der Schadensersatzanspruch der Kläger gegen den Ölriesen wird gleichsam auf die Zukunft ausgerichtet - um Schäden zu vermeiden oder wenigstens gering zu halten. Untermauert wird dies mit dem Schutz des Lebens und dem Recht auf Achtung des Privatlebens aus der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Wäre so etwas auf Deutschland übertragbar? Roda Verheyen, eine der erfahrensten und erfolgreichsten Anwältinnen beim Thema Klimaschutz, hält das für denkbar. Das juristische Schlüsselwort lautet: Verkehrssicherungspflicht. Wer eine Gefahrenquelle eröffnet, muss für Sicherheit sorgen. Wer beispielsweise eine Hüpfburg aufstellt, muss dafür Sorge tragen, dass die Kinder sich nicht verletzen. Wenn aber jeder kleine Freizeitveranstalter Pflichten hat, sobald er Risiken schafft - warum nicht auch ein Ölkonzern wie Shell? Auch beim Klimaschutz geht es um Kinder. Das Verfassungsgericht, sagt Verheyen, habe den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in Artikel 20a des Grundgesetzes zu einer durchsetzbaren Norm gemacht. So etwas wirke bis ins Zivilrecht hinein.

Es gibt nicht den einzelnen, alles lösenden juristischen Präzedenzfall

Gewiss, um ein Unternehmen zu verklagen, muss man von dessen Aktivitäten persönlich betroffen sein. Die Kläger in den Niederlanden, wo man an der Wasserkante lebt, konnten auf den steigenden Meeresspiegel verweisen. Aber der Klimawandel trifft letztlich jeden. Für Verheyen stellt sich nach dem Urteil daher die Frage: "Traut sich jemand, eine ähnliche Klage gegen VW zu erheben?" Also gegen einen Autokonzern, der immer noch Verbrennungsplattformen baue. Ein Anwaltskollege, Remo Klinger, hat bereits Klagen gegen deutsche Unternehmen angekündigt.

Klar ist zugleich, dass es nicht den einzelnen, alles lösenden juristischen Präzedenzfall gibt. Wie kaum je zuvor spielen sich die Gerichte grenzüberschreitend die Bälle zu. Das Verfassungsgericht etwa zitiert das Haager Urgenda-Urteil von 2019, das die Niederlande damals spektakulär zur Kohlendioxid-Reduktion verurteilte. Karlsruhe hat selbst für die internationale Rezeption des eigenen Beschlusses gesorgt, mit Pressemitteilungen auf Englisch, Französisch und Spanisch.

Gerade erst hat ein Gericht in Melbourne betont, dass beim Kohleabbau die Rechte der jungen Generation zu beachten sind. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte treibt derweil mit Priorität die Behandlung einer Klimaklage junger Menschen aus Portugal voran. Gut möglich, dass er den Menschenrechten, die im Shell-Urteil eine Rolle gespielt haben, weitere Konturen verleiht. Was eine Vorlage für andere Gerichte wäre, europaweit. Die Ära der Klimaschutz-Urteile hat gerade erst begonnen.

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