In den vergangenen Monaten hat das Bundesverfassungsgericht viel Zeit auf einige Verfassungsbeschwerden verwendet, in denen es um die "Existenz der Gattung Mensch" geht, so steht es in einer der Klageschriften. Geklagt haben junge Leute, unterstützt von Umweltschutzorganisationen, sie wollen den Klimaschutz gerichtlich herbeizwingen.
Die Klima-Aktivistin Luisa Neubauer zum Beispiel, und vier Kinder einer Bauernfamilie von der Nordseeinsel Pellworm, denen immer mal wieder das Wasser buchstäblich bis zum Hals steht; oder Lucas Lütke-Schwienhorst aus Brandenburg, er hat wegen seiner Milchkühe Angst vor dem nächsten Hitzesommer. Gut möglich, dass die Antwort aus Karlsruhe noch vor dem Sommer kommt, von dem man noch nicht weiß, wie viel Hitze er bringen wird. Der Erste Senat arbeitet dran.
Jedenfalls eilt es, wegen der "Wichtigkeit und der Dringlichkeit der aufgeworfenen Fragen". Der Satz stammt nicht aus Karlsruhe, sondern aus Straßburg, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der gerade ein beschleunigtes Verfahren für eine Klimaschutzklage verfügt hat. Geklagt haben sechs junge Menschen aus Portugal, und zwar gegen 33 Regierungen, darunter die deutsche. Auch die ältere Generation ist dabei, sie kann Hitze schlecht vertragen, die Schweizer Gruppe "KlimaSeniorinnen" hat ebenfalls Beschwerde eingereicht. Die Klagen werfen "neue rechtliche Fragen" auf, wie Gerichtspräsident Róbert Spanó kürzlich in einer Pressekonferenz sagte.
Noch schneller geht es in Luxemburg beim Europäischen Gerichtshof (EuGH). An diesem Donnerstag verkündet das oberste EU-Gericht eine Entscheidung über den "People's Climate Case", eine Klage mehrerer Familien, darunter eine Reihe junger Menschen. Die Klage richtet sich gegen eine Richtlinie und zwei Verordnungen der EU, die den Ausstoß von Treibhausgasen deckeln sollen. Der Deckel hängt viel zu hoch, meinen die Kläger. An diesem Donnerstag geht es um eine scheinbar formale, in Wahrheit aber zentrale Frage: Kann man Klimaschutz überhaupt einklagen?
Der Leuchtturm der Klimaschutzklagen steht in den Niederlanden
Das europäische Gericht erster Instanz meinte: Nein. Die Kläger des "People's Climate Case" hätten keine "Klagebefugnis", denn sie seien durch den Klimawandel zwar beeinträchtigt, aber eben nicht anders als alle anderen. Zur Klage befugt seien aber nur Personen, die durch die EU-Vorschriften aufgrund besonderer Umstände "individuell" betroffen seien, so lautet die gängige Formel. Sie ist nicht mehr ganz frisch - sie stammt aus dem Jahr 1963. Trotzdem ist nicht ausgeschlossen, dass der EuGH jetzt daran festhält, er hat nicht einmal eine mündliche Verhandlung zur Vorbereitung des Urteils anberaumt.
Das Augenmerk richtet sich damit auf das Bundesverfassungsgericht, dort dürften die Aussichten der Kläger wohl noch am besten sein. Aber auch in Deutschland sind auf dem Weg zum Gericht Hürden zu überwinden. Das Verwaltungsgericht Berlin hatte 2019 eine Klimaklage von Bio-Landwirten an der Klagebefugnis scheitern lassen. Sollte man da nicht noch einmal nachdenken, wo es doch um die "Existenz der Gattung Mensch" geht? Die Formel von der "individuellen" Betroffenheit geht letztlich an den Gefahren des Klimawandels vorbei. Danach wären Klagen umso aussichtsloser, je gleichmäßiger die Bevölkerung von Verheerungen durch Hitze und Stürme bedroht wäre. Effektiver Rechtsschutz sieht anders aus.
Er sieht zum Beispiel so aus wie in den Niederlanden. Der Leuchtturm der Klimaschutzklagen heißt "Urgenda", so heißt eine Stiftung, auf deren Klage hin das oberste Gericht der Niederlande kurz vor Weihnachten 2019 die Regierung zur Senkung der Treibhausgasemissionen um 25 Prozent bis Ende 2020 verpflichtete, statt der angestrebten 20 Prozent. Gestützt wurde das Urteil auf die Europäische Menschenrechtskonvention. Ihr Schutz sei "nicht auf spezifische Personen begrenzt, sondern gilt für die Gesellschaft oder die Bevölkerung insgesamt", schrieben die Richter.
Gerichte können Regierungen also durchaus zum Handeln verpflichten. Im niederländischen Urteil findet sich ein weiterer Schlüsselbegriff für Klimaklagen - die Schutzpflichten. Man muss nicht warten, bis Dürre oder Sturmfluten den Menschen ihr Hab und Gut nehmen oder im schlimmsten Fall das Leben.
Der Staat sei verpflichtet, "sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit zu stellen", so heißt es auch in einem Beschluss des Verfassungsgerichts von 1995, damals ging es um Gefahren durch gesundheitsschädliches Ozon in der Atemluft. "Der Staat muss Maßnahmen normativer und tatsächlicher Art treffen", damit ein wirksamer Schutz erreicht werde. Das wäre immerhin ein Ansatzpunkt für ein Klimaschutzurteil.
Liest man den Ozonbeschluss zu Ende, dann ahnt man freilich, woran sich das Schicksal der Klimaschutzklagen entscheiden wird. Schutz muss der Staat gewähren, klar. Aber wie er das tut, dabei genießt er großen Spielraum. Das Verfassungsgericht könne eine Verletzung der Schutzpflicht nur feststellen, wenn "die bisher getroffenen Maßnahmen evident unzureichend sind", befand Karlsruhe. Das oberste Gericht gelobte Zurückhaltung - und markierte damit die Grenze zwischen Politik und Rechtsprechung. Der Schutz der Bürger vor den Gefahren der Umwelt obliegt zuerst Regierung und Parlament. Das Verfassungsgericht wacht an der Seitenlinie.
Kritiker warnen vor einer "Weltrettung per Gerichtsbeschluss"
Nun gibt es viele Stimmen, die zum Beispiel das deutsche Klimaschutzgesetz nicht wirklich für ausreichend halten. Danach muss die Emission von Treibhausgasen bis 2030 um 55 Prozent reduziert werden, gemessen am Jahr 1990. Rechtsanwältin Roda Verheyen, sie hat die Karlsruher Klageschrift formuliert, meint: Das wird nicht reichen. Sie bietet umfangreiche Berechnungen auf, wonach das Gesetz auf veralteten Zahlen basiert. Das verbleibende Budget an Treibhausgasen, das weltweit noch ausgestoßen werden darf, bis eine deutliche Erderhitzung zu erwarten ist, sei inzwischen weiter geschrumpft. Gleiches gelte für Europa. Verheyen hat auch am People's Climate Case mitgearbeitet. Die drei EU-Rechtsakte blieben mit ihrer Reduktion von 40 Prozent bis 2030 hinter dem zurück, was nach dem Pariser Abkommen geboten sei. Nötig wären 80 Prozent.
Aber wäre dieses Unterlassen im Klimaschutzgesetz offensichtlich genug für eine höchstrichterliche Invention? Auch hier passt die Juristenformel nicht so recht auf die Risiken des Klimawandels. Wissenschaftler warnen, es könnte zu spät sein, wenn man warte, bis die Versäumnisse "evident" würden. Je höher die globale Temperatur, desto näher sei man an den sogenannten "Kipppunkten", die einen nicht mehr rückholbaren Automatismus der Katastrophen auslösen könnten. Wann sie erreicht sind, weiß man, sobald sie erreicht sind. Keine guten Aussichten. Also muss gelten, was die Bevölkerung gerade bei einem anderen Thema eingeübt hat - eine Abstandspflicht zum ökologischen Abgrund.
Aus Sicht von Christian Callies lässt sich dieser Gedanke durchaus ins Verfassungsrecht übersetzen. Der Berliner Professor, zugleich Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen, spricht vom "ökologischen Existenzminimum". Nicht zufällig gemahnt er damit an einen Richterspruch, bei dem es schon einmal ums Überleben ging - das Karlsruher Urteil zum menschenwürdigen Existenzminimum von 2010.
Ohnehin ist der Klimaschutz längst von Paragrafen umhegt. Nach dem Pariser Abkommen von 2015 soll die globale Erwärmung auf "deutlich unter zwei Grad Celsius" begrenzt werden, besser auf 1,5. Das war kein blumiges Abschlusskommuniqué, sondern ein völkerrechtlich bindender Vertrag. Und Artikel 20 a Grundgesetz, wonach der Staat "auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen" schützt, ist zwar kein echtes Grundrecht - aber er haucht den Grundrechten ökologisches Leben ein. Damit können Gerichte arbeiten.
Bleibt die Frage, ob Richter sich damit nicht doch zu weit in politische Sphären vorwagten. Kritiker warnen vor einer "Weltrettung per Gerichtsbeschluss", dafür sei die Justiz nicht gemacht. Aber stimmt das wirklich? Die Gerichte müssten ja kein eigenes Klimakonzept formulieren - das wird immer Sache der Politik bleiben. Sollte das Verfassungsgericht überhaupt nur die Tür zur gerichtlichen Prüfung von Klimaschutzmaßnahmen öffnen, dann hätten die Kläger schon halb gewonnen. "Es wäre schön, wenn wir uns dort mal über den Klimaschutz unterhalten könnten", sagt Roda Verheyen. "Und nicht über Gerichtszugänge."