Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte:Seniorinnen klagen gegen Schweizer Klimapolitik

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Klimaseniorinnen und Unterstützer in Straßburg, darunter die Co-Präsidentinnen Rosmarie Wydler-Wälti (l.) und Anne Mahrer (3.v.r.).

Klimaseniorinnen und Unterstützer in Straßburg, darunter die Co-Präsidentinnen Rosmarie Wydler-Wälti (l.) und Anne Mahrer (3.v.r.).

(Foto: Greenpeace)

Gerade ihr hohes Alter könnte Aktivistinnen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zum Erfolg verhelfen. Das hätte weitreichende Folgen.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Rosmarie Wydler-Wälti blickt auf ein aktivistisches Leben zurück. Lange vor Tschernobyl hat sie gegen Kernkraft protestiert und gegen die patriarchale Ausbeutung der Erde, später ist sie für den Frieden auf die Straße gegangen. Anne Mahrer hat die Ölkrise von 1973 erlebt und die leeren Straßen genossen: "Der Sonntag ohne Autos war wunderbar." Norma Bargetzi-Horisberger erinnert sich an den Widerstand gegen das geplante Schweizer Kernkraftwerk Kaiseraugst, an die Besetzungen des Kraftwerksgeländes durch Aktivisten. Eine Erfolgsgeschichte des Protests, das Projekt wurde in den 80er-Jahren aufgegeben.

An solche Siege möchten die drei streitbaren Frauen anknüpfen. Nur dass der Kampf dieses Mal im Gerichtssaal stattfindet.

An diesem Mittwoch um 9.15 Uhr wird die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg den Fall "Verein Klimaseniorinnen Schweiz and others v. Switzerland" aufrufen. Eine Klimaklage gegen die Schweiz, unterstützt von Greenpeace.

Wer in Straßburg klagt, muss geltend machen können, "besonders" betroffen zu sein

Dahinter stehen mehr als 2000 Frauen; Bargetzi-Horisberger ist im Vorstand des Vereins, Wydler-Wälti und Mahrer sind dessen Präsidentinnen. Und sie haben ein starkes Argument: Wegen ihres Alters - der Vereinsdurchschnitt liegt jenseits der 70 - werden sie unter den Hitzewellen des Klimawandels stärker leiden als andere Menschen. Viele von ihnen empfinden die Hitzesommer schon jetzt als Qual.

Dieser gar nicht so kleine Unterschied könnte sich als juristischer Türöffner erweisen. Denn wer vor dem Straßburger Gerichtshof klagt, muss geltend machen können, von den beklagten Umständen "besonders" betroffen zu sein.

Für Klimakläger erweist sich dies als geradezu paradoxe Hürde, die auch vor anderen Gerichten schwer zu nehmen ist: Je umfassender und gleichmäßiger die Bedrohung ist, desto geringer sind die Aussichten, dass ein Gericht den Fall überhaupt annimmt - denn der Klimawandel trifft nun mal alle.

Das andere Europagericht, der Europäische Gerichtshof der EU in Luxemburg, hatte vor zwei Jahren eine Klimaklage mit exakt diesem Argument abgewiesen.

Dass sie wegen ihres Alters stärker um ihre Gesundheit fürchten müssen als andere, könnte den Klimaseniorinnen rechtlich also zum Vorteil gereichen. Offenkundig hat sich der Gerichtshof vorgenommen, mehr Klarheit für Klimaklagen zu schaffen. Neben vier individuell klagenden Seniorinnen hat auch der Verein selbst eine Beschwerde eingereicht.

Aber dürfen Vereine und Verbände in Straßburg klagen - also dort, wo es um die Rechte der Menschen, nicht der Verbände geht? Der Gerichtshof hat sich bisher noch nicht klar dazu geäußert; für Klima-Aktivisten ist das Thema zentral.

Bei Klimaklagen betritt der EGMR Neuland

Ebenfalls am Mittwoch verhandelt das Gericht über eine Klage von Damien Carême, dem früheren Bürgermeister von Grande-Synthe. Die Kleinstadt am Ärmelkanal, bedroht vom steigenden Meeresspiegel, hatte mit ihrer Klage einen spektakulären Erfolg erzielt. Der französische Staatsrat hatte die Regierung zu stärkeren Klimaschutzanstrengungen verurteilt. Carêmes individuelle Klage hingegen scheiterte. Das will er nun in Straßburg prüfen lassen - weil nicht nur der Kommune, sondern auch ihm selbst das Wasser bis zum Hals steht.

Doch auch wenn der Gerichtshof die formalen Klagehürden senkt: Dass er am Ende die unzureichende Schweizer Klimapolitik wirklich als Menschenrechtsverletzung einstuft, ist damit noch nicht gesagt. Konkret geht es um Artikel 2 und 8 der Menschenrechtskonvention - das Recht auf Leben und Gesundheit sowie den Schutz des Privat- und Familienlebens. Zwar hat der Gerichtshof in Umweltschutzfällen Staaten durchaus dazu verurteilt, "angemessene Schritte" zum Schutz des Lebens seiner Bewohner zu unternehmen. Bei Klimaklagen jedoch betritt er Neuland.

Bis zur Verkündung des Urteils wird es noch einige Monate dauern. Sollte sich der Gerichtshof dazu entschließen, eine staatliche Schutzpflicht vor den Folgen des Klimawandels zu verankern, dann wäre dies ein gewaltiger Sieg für die Klägerinnen. Und zwar auch dann, wenn die Schweiz nicht zu einer exakt bezifferten Verringerung der Emissionen verurteilt wird, sondern nur zu den erwähnten "angemessenen Schritten". Es wäre ein Urteil mit europaweiter Geltung: Der Gerichtshof ist eine Institution des Europarats, dem 46 Staaten angehören.

Wie nationale Gerichte mithilfe der Menschenrechte den Klimaschutz voranbringen können, hatten niederländische Gerichte bereits in den Jahren 2015 bis 2019 vorgeführt. In mehreren Instanzen verurteilten sie die niederländische Regierung zur Reduktion von Treibhausgasemissionen um 25 Prozent bis Ende 2020. Und beriefen sich dabei - sogar noch ohne Straßburger Vorgaben - auf Artikel 2 und 8 der Menschenrechtskonvention.

Hinzu kommt: Ein Klima-Urteil des EGMR wäre eines jener Gewichte, mit denen Justitia das Für und Wider vieler Klagen rund um den Klimaschutz prüft und wägt. Bei Autobahnprojekten könnte es die Chancen der Planer mindern, für Windparks und Stromtrassen hingegen wäre es ein Plus. Die Menschenrechte allein werden nicht über Großvorhaben entscheiden. Aber wenn es knapp hergeht, dann können sie das Zünglein an der Waage sein. Und wann geht es nicht knapp her im Konflikt zwischen Klimaschutz und Wirtschaftsinteressen?

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