Süddeutsche Zeitung

Klimapolitik:Wie Atomkraft und Erdgas bei der EU zu grünen Energiequellen avancierten

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Als die EU-Kommission 2018 ihre Idee vorstellte, bestimmten Investitionen einen Nachhaltigkeitsstempel verleihen zu wollen, wurde das allseits begrüßt. Doch das Thema gewann an politischer Sprengkraft.

Von Josef Kelnberger, Brüssel, und Thomas Kirchner

Als die Europäische Kommission 2018 erstmals ihre Idee vorstellte, bestimmten Investitionen einen Nachhaltigkeitsstempel verleihen zu wollen, wurde das allseits begrüßt. Der Kampf gegen den Klimawandel wird schließlich teuer, weshalb es sich lohnt, das Geld von Anlegern sowie die europäischen Fördermittel in die politisch gewünschte Richtung zu lenken. Noch dazu wäre Europa weltweit Vorreiter bei dem Plan.

Was aber als "nachhaltig" oder "grün" gelten kann, war von Beginn an umstritten, es kommt auf die Kriterien an. Frankreich und andere wollen die Atomkraft dazuzählen, die kein Kohlendioxid ausstößt, andere wie Deutschland setzen auf Gas im Übergang von der Kohle zum Wasserstoff, wieder andere halten beides nicht für nachhaltig. In einem ersten Verordnungsentwurf, der zwischen Kommission, EU-Parlament und Mitgliedstaaten entwickelt wurde, galten nur erneuerbare Energien wie Wind oder Sonne als "grün". Bei Gas ließ man einige Details offen, Atomkraft wurde weggelassen. In der Folge befassten sich verschiedene Expertengruppen in der Kommission mit Atomkraft und Gas, die befanden, dass beide unter bestimmten Bedingungen zum Kampf gegen den Klimawandel beitragen und den anderen Umweltzielen nicht "signifikant schaden". Festgelegt wurden die Kriterien schließlich in einem "delegierten Rechtsakt", den die Kommission im Juni 2021 annahm. Atomkraft und Gas wurden wegen ihrer Brisanz ausgekoppelt und in einem zweiten Akt behandelt, den die Kommission nun mit einiger Verspätung vorgelegt hat.

In der Zwischenzeit gewann das Thema jedoch an politischer Sprengkraft. Und das vor allem für Frankreich, das sich anschickt, sogar eine Renaissance der Atomkraft einzuleiten, wie Präsident Emmanuel Macron im November verkündete. Umso wichtiger, dass die Finanzierung solcher Vorhaben, deren Risiken vor allem der Staat trägt, nicht aus dem Ruder läuft. Die Einstufung der Atomkraft als "nachhaltig" im Sinne der Taxonomie könnte, so offensichtlich das Pariser Kalkül, der nationalen Atomwirtschaft beträchtlich helfen. So bekam die Brüsseler Entscheidung noch mehr strategisches Gewicht.

In Berlin wiederum ist man seit jeher bemüht, die Bedeutung der Taxonomie herunterzuspielen - im Wissen um ihre innenpolitische Brisanz und weil die deutsche Haltung zur Atomkraft in der EU keine Mehrheit findet. "Die Frage wird völlig überbewertet", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz nach dem EU-Gipfel Mitte Dezember. Da war das Thema politisch schon geklärt - und zwar durch Nicht-Widerstand der Vorgängerregierung unter Angela Merkel in Brüssel.

Wäre sie in dieser Frage anders aufgetreten, wäre die Diskussion in Brüssel anders verlaufen, ist sich der grüne EU-Abgeordnete Rasmus Andresen sicher: "Die deutsche Regierung ist nicht irgendeine in der EU." Aus seiner Sicht hätte die Verabschiedung des Rechtsakts verhindert werden müssen. Warum Merkel das nicht getan hat, welche Gegengeschäfte mit Frankreich es möglicherweise gibt, darüber lässt sich spekulieren. Das sind zumindest die Fragen, die manche grüne Politiker umtreiben. Es gibt aber auch die Theorie, dass Merkel schlicht wusste, wie es um die Mehrheiten in der EU bestellt ist und deshalb, nicht zum ersten Mal, darauf verzichtete, für etwas Ungewinnbares zu kämpfen.

Im Europaparlament könnte die Sache noch scheitern - theoretisch

Und noch eine Frage blieb am Montag offen: Warum muss ein für die europäische Klimapolitik derart bedeutendes Papier ausgerechnet am Silvesterabend veröffentlicht werden? Es handle sich eben um ein sehr "komplexes, delikates" Thema, sagte ein Sprecher der EU-Kommission. Ein "pragmatisches und realistisches" Papier habe man vorgelegt, so lautet eine Sprachregelung der Kommission, wobei die beiden Wörter wohl für "mehrheitsfähig" stehen. Eine weitere Sprachregelung lautet: Mit Kernkraft und Erdgas erzeugte Energie sei nur eine Lösung für den "Übergang" zu einer Zukunft mit erneuerbaren Energieträgern und zur Klimaneutralität, die für das Jahr 2050 angestrebt wird. Und schließlich: Die Taxonomie sei "kein Instrument der europäischen Energiepolitik". Die Kommission will also keinen Einfluss darauf nehmen, welchen Energiemix die Mitgliedsländer wählen.

Bis zum 12. Januar erwartet die Kommission Stellungnahmen von Regierungen und Europaparlament. Bis Ende Januar will sie dann ihren delegierten Rechtsakt verabschieden. Gekippt werden kann er nur durch eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedsländer - 20 der 27 Regierungen müssten dagegen stimmen - oder eine absolute Mehrheit im Europaparlament. Doch daran glaubt niemand in Brüssel.

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