Süddeutsche Zeitung

Klimaschutzziel bis 2045:"Faires Angebot auch für die jüngeren Generationen"

Kurz vor der Bundestagswahl verschärft die Koalition noch einmal die Emissions-Ziele - bis 2045 soll Deutschland "klimaneutral" werden. Doch Umweltschützern und Grünen geht das nicht weit genug.

Von Michael Bauchmüller, Berlin

Für Angela Merkel hat die Zeit der letzten Male begonnen. Es gibt Veranstaltungen, denen sie Jahr für Jahr die Treue hielt - und die sie nun zum letzten Mal aufsucht. Etwa den "Petersberger Klimadialog": Den hatte sie 2010 selbst aus der Taufe gehoben, nach der desaströsen Klimakonferenz von Kopenhagen sollte er die Staaten wieder an einen Tisch bringen. Keines der bisher zwölf Treffen ließ Merkel aus. Wenn sie an diesem Donnerstag dort auftritt, hat sie Neuigkeiten: Deutschland setzt sich mit einem neuen Klimaziel an die Spitze der industrialisierten Welt.

Ausgehandelt hat das Ziel eine kleine Ministerrunde nach der Kabinettssitzung am Mittwoch. Schon bis 2045 soll die Bundesrepublik nun "klimaneutral" werden. Das heißt, von da an werden hierzulande nicht mehr Treibhausgase erzeugt, als sich der Atmosphäre zugleich entziehen lassen. Solche negativen Emissionen entstehen dadurch, dass zum Beispiel aus Biomasse Strom erzeugt wird, das anfallende Kohlendioxid dann aber abgeschieden und gespeichert wird. Erst 2019 hatte sich der Bund zur Klimaneutralität bekannt - aber erst für das Jahr 2050.

Hintergrund ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von voriger Woche. Die Richter hatten moniert, dass mit dem deutschen Klimaschutzgesetz die Freiheiten künftiger Generationen eingeschränkt würden. Zu viele Anstrengungen im Klimaschutz würden dadurch auf die Zeit nach 2030 vertagt. Auch fehlten konkretere Zwischenziele für die Jahre danach. Die Karlsruher Richter gaben der Regierung Zeit bis Ende 2022. Aber so kurz vor der Bundestagswahl wollte die Koalition diesen Rüffel nicht auf sich sitzen lassen. "Wahre, verständliche Sprache" habe das Bundesverfassungsgericht da gesprochen, sagt Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD).

Scholz ist es auch, der am Mittwoch zusammen mit Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) die Einigung vorstellt. So soll auch das Klimaziel für 2030 ehrgeiziger werden. Bis dahin sollen die klimaschädlichen Emissionen nun um 65 Prozent unter das Niveau von 1990 sinken - statt bisher um 55 Prozent. Konkret heißt das, dass am Ende dieser Dekade jährlich 125 Millionen Tonnen Kohlendioxid weniger ausgestoßen werden müssen als nach bisheriger Planung. Das entspricht in etwa dem, was alle Gebäude in Deutschland zusammen emittieren. Zuletzt hatte Deutschland seine Emissionen um 40 Prozent unter den Wert von 1990 drücken können - das allerdings auch dank Corona-Lockdown und Wirtschaftskrise.

Erstmals soll es auch ein Klimaziel für 2040 geben: minus 88 Prozent. Damit seien die Lasten im Klimaschutz fair auf die nächsten Jahre aufgeteilt, sagt die Umweltministerin: minus 25 Prozentpunkte in den neun Jahren bis 2030, weitere 23 bis 2040, und schließlich zwölf Prozentpunkte für die letzten fünf Jahre bis zur Klimaneutralität. "Das ist ein faires Angebot auch für die jüngeren Generationen", sagt Schulze. "Jede Generation übernimmt hier Verantwortung."

Das höhere Ziel für 2030 allerdings soll nicht nur die Kritik aus Karlsruhe auffangen. Vor zwei Wochen erst hatten sich auch die EU-Institutionen auf ein höheres gemeinsames Klimaziel verständigt. Allein diese Entscheidung hätte eine Anhebung der deutschen Vorgaben nötig gemacht. Der von der Regierung einberufene "Expertenrat für Klimafragen" hatte deshalb jüngst eine Anhebung auf 62 bis 68 Prozent empfohlen.

Umweltschützern und Grünen allerdings geht auch das noch nicht weit genug. "Um die Erderhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen und den nachfolgenden Generationen keine unverhältnismäßige Bürde aufzulasten, wären mindestens 70 Prozent nötig", sagt Viviane Raddatz, Klimaexpertin bei der Umweltstiftung WWF. Im Übrigen brauche es nun rasch Maßnahmen, um die Ziele zu erreichen. "Sonst nutzen auch die besten Ziele nichts."

Die Bundesregierung vertraut dafür auf die Mechanik des Klimaschutzgesetzes. Darin bekommen die einzelnen Bereiche der Wirtschaft, also etwa Industrie, Verkehr, Landwirtschaft und Gebäude, feste CO₂-Budgets zugewiesen, die Jahr für Jahr schrumpfen. Verfehlt einer der Bereiche sein Ziel, muss das jeweils zuständige Ministerium nachsteuern, ob durch neue Vorgaben oder Förderprogramme. Diese Budgets sollen nun angepasst werden, sagt Schulze, "aber nicht mathematisch linear, sondern danach, was möglich ist". Im Bausektor lasse sich schließlich nicht so schnell nachsteuern wie in anderen Bereichen.

Schon bis nächsten Mittwoch sollen all diese Fragen geklärt sein, dann soll die Novelle ins Kabinett. In der Vergangenheit allerdings hatte die Verteilung für Streit gesorgt, für alle Bereiche der Wirtschaft wird das neue Ziel für 2030 anspruchsvoll. "Wir gehen sehr, sehr nah an die Grenze dessen, was realistisch machbar ist", sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU).

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