Süddeutsche Zeitung

Klerikal-Faschismus in Österreich:Die Donau-Diktatur

War das arme kleine Österreich wirklich das erste Opfer der großen bösen Nazis? Schon ab 1933 wurde die parlamentarische Demokratie im Alpenstaat beseitigt - und der Weg für den "Anschluss" an Hitlerdeutschland geebnet.

Von Michael Frank, Wien

Hellfried Brandl war ein aufrechter Österreicher. Deshalb hat er an seiner Heimat und deren Geschichte gelitten. Der zu früh gestorbene Journalist forschte und berichtete aus gutem Grund über die unzulänglichen Versuche seiner Landsleute, Österreichs Rolle in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Nachhinein aufzuarbeiten.

Es jährt sich der sogenannte Anschluss, als Österreich auf Befehl Adolf Hitlers am 12. März 1938 militärisch besetzt, von den Nationalsozialisten politisch okkupiert und hinter dem Kampfbegriff "Ostmark" auch namentlich aus der Geschichte getilgt wurde. Brandls aberwitzig germanischer Vorname hatte in bitterer Ironie damit zu tun.

Die Eltern, laut Brandl wahre "Supernazis", hatten ihm eigentlich den Namen des heldenhaftesten aller teutonischen Helden zugedacht: Siegfried. In Wien gab es aber ein starkes jüdisches, deutschnational gesinntes Großbürgertum, das wie viele andere Österreicher die einzige Zukunft seines Landes im Verbund mit dem Deutschen Reich sah.

Weil diese Leute - in den Augen der Brandls trotz allem "Judenlümmel" - ihre Erstgeborenen gern Siegfried nannten, verfielen die Eltern auf Hellfried als Höchstform germanischer Namensgebung. Oder, wie die Wiener sagen würden: als Überschmäh.

Die Namensgroteske ist bezeichnend für die komplizierten Verhältnisse vor dem sogenannten Anschluss - Verhältnisse, denen die bequeme Schwarz-Weiß-Malerei, mit der im Nachkriegsösterreich der geschichtliche Super-GAU nachgezeichnet wurde, kaum gerecht wird. Das arme kleine Österreich als erstes Opfer der großen bösen Nazis?

Natürlich stimmt, dass Hitlers Nazis Österreich dem Dritten Reich kompromisslos einverleiben wollten. Dennoch ist die These nicht ganz abwegig, die Österreicher selbst hätten den Untergang von Staat und Gesellschaft mitbewirkt, ja mitverschuldet.

Der März 1933 gilt unbeugsamen Demokraten als Schlüsseldatum für die Österreich-Dämmerung: Damals, vor 75 Jahren, machte Österreichs Kanzler Engelbert Dollfuß der parlamentarischen Regierungsform den Garaus.

Österreich war also längst keine Demokratie mehr, als die Nazis kamen. Seit fünf Jahren war es vom sogenannten Ständestaat beherrscht, einer rückwärtsgewandten, noch immer am versunkenen Feudalsystem orientierten autoritären Gesellschaftsordnung christsozialer Prägung. Historiker sprechen von einer Regierungsdiktatur.

Dieser dezidiert klerikal geprägte sogenannte Austrofaschismus war zwar längst nicht so totalitär und grausam wie der Nationalsozialismus und durchdrang die Gesellschaft weniger unerbittlich als die Hitler-Ideologie. Ihm fehlten übermächtige Despotengestalten wie Hitler und Mussolini.

Im Gegensatz zu den deutschnationalen Österreichern verstanden die Austrofaschisten immer ein unabhängiges, eigenständiges Österreich als ihr Kernprogramm.

Die Bischöfe sagten feierlich "Ja"

Dennoch gerierten auch sie sich als dezidiert "deutsch". Hermann Göring mokierte sich kurz vor dem "Anschluss" darüber, dass Österreichs Faschisten eigentlich den Nationalsozialismus nachäfften: Ersetze man das Kruckenkreuz, das austriakische Faschistenemblem, durch das Hakenkreuz, gebe es praktisch keinen Unterschied mehr.

Als Kurt Schuschnigg, Österreichs letzter (und diktatorisch regierender) Kanzler, im März 1939 vor Hitler die Segel strich, verabschiedete er sich im Wiener Rundfunk mit einer aus heutiger Sicht absurden Formel, nämlich "mit einem deutschen Wort: Gott schütze Österreich!"

Die deutsche Frage war in der Zwischenkriegszeit einer der entscheidenden innerösterreichischen Konflikte. Die alte Vielvölker-Monarchie war eingeschrumpft auf ihre weithin deutschsprachigen Kronlande. Viele hielten den Reststaat für zu schwach, zu klein, zu hilfebedürftig.

Sie hielten es für seriös, die alte Frage um Groß- oder Klein-Deutschland neu zu stellen, ob also Österreich Teil Deutschlands sei oder nicht. Im 19.Jahrhundert war diese Frage dezidiert gegen den Einschluss Österreichs in den gesamtdeutschen Raum beantwortet worden.

Die Erste Republik nach 1918 hieß demonstrativ "Republik Deutsch-Österreich". Deren Sozialdemokraten haben erst im Oktober 1933 einen Paragraphen aus ihrem Programm gestrichen, der ausdrücklich den Anschluss an das Reich vorsah. Das war keine Abkehr von der Überzeugung, dem deutschen Raum zuzugehören, sondern eine Reaktion auf die Machtübernahme der Nazis in Deutschland, in deren Arme man sich nun wirklich nicht flüchten wollte.

Die Christsozialen und die aus ihnen hervorgegangenen Austrofaschisten empfanden sich stets als österreichisch und deutsch. Sie propagierten den Begriff der "Kulturnation", um Deutschtum zu dokumentieren, zugleich aber Eigenstaatlichkeit zu rechtfertigen.

Die Klerikalfaschisten muss es nach der Beseitigung ihres Regimes durch den geistesverwandten Hitler besonders verbittert haben, dass in der folgenden, von den Nazis angesetzten Volksabstimmung auch Österreichs Bischöfe in einer als Hirtenbrief gedachten "Feierlichen Erklärung" für das Ja zum "Anschluss" plädierten.

Dabei war der Unmut über den politischen Katholizismus in Österreich mit ein Grund für die Deutschensehnsucht, die sogar so konträre Charaktere wie Sozialdemokraten und Nationalsozialisten teilten. Seit der Gegenreformation verstand sich Österreich als prinzipiell katholisch, ungeachtet aller Toleranzpatente und Duldungsedikte.

Sogar "Seine Apostolische Majestät" der Kaiser selbst war qua definitionem katholisch. Dies stellte eine arge Provokation für "ketzerische" und aufgeklärte Bürger dar, zumal in Verbindung mit dem Metternichschen Polizei- und Spitzelstaat, einer austriakischen Erfindung, derer sich heutige kaiserselige Romantiker kaum bewusst sind.

Noch in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts hat die letzte Protestantenaustreibung stattgefunden, als das "Heilige Tirol" Zigtausende evangelische Zillertaler verjagte. Der preußische König nahm sie in Niederschlesien gerne auf.

Nach dem Ende der Donaumonarchie etablierte sich prompt auch in der Republik in Gestalt der Christsozialen eine tendenziell autoritäre Machtelite dezidiert katholischer und ländlicher Prägung. Deren Gegner dachten oft in Richtung Deutschland: Endlich eintreten in einen Raum mit gemischter konfessioneller Bevölkerungszusammensetzung, in einen Staat mit laizistischer Regierung.

Selbst die autoritären Antidemokraten in Österreich spalteten sich in dieser Frage: Der gewaltige Zulauf der Nazis schon vor 1933, ihr Putschversuch von 1934 und das Auftauchen hunderttausender illegaler NSdAP-Mitglieder im Jahr 1938 haben hier manche Wurzel.

Zum Beispiel Kärnten. Das atavistische, bis heute nicht wirklich christianisierte, geschweige denn katholisierte Land hatte besonders schwer unter der Gegenreformation gelitten. Vollends naziträchtig wurde dieses traumatische Erbe, als es sich auch noch mit dem Bewusstsein verband, Kärnten bilde ein antislawisches Bollwerk gegen seine Nachbarn im Süden und Osten.

Ähnliches gilt für aus ungarischer Zeit gemischt-konfessionell gebliebene Gebiete des Burgenlandes und sogar für die steirische Hauptstadt Graz. Hier übernahmen örtliche Nazis schon vor dem Erscheinen von Polizei und Militär aus dem Reich die Stadtregierung, was Graz den zweifelhaften Ehrentitel "Stadt des Volksaufstandes" eintrug.

Engelbert Dollfuß, der Kern eines tiefen Traumas der Republik

Das aus der Gleichsetzung von autoritärer Macht und politischem Katholizismus entspringende Feindverhältnis vieler Österreicher zur Kirche vermochten erst Franz Kardinal König und Bruno Kreisky in den siebziger Jahren zu befrieden.

1933 hingegen hatte Bundeskanzler Engelbert Dollfuß seinen Ständestaat propagiert, der sich ausdrücklich gegen Liberalismus, Marxismus, Nationalsozialismus und Parlamentarismus(!) richtete. Als die "Roten" im Februar 1934 dagegen revoltierten, antworteten die "Schwarzen" mit schwerem Geschütz, ließen nach kurzem Bürgerkrieg rote "Rädelsführer" hinrichten und die Sozialdemokratische Partei verbieten.

Engelbert Dollfuß ist Kern eines tiefen Traumas der Republik. Nach wie vor streiten ihre Historiker darüber, ob der "Anschluss" so verlaufen wäre, wenn Hitler in Österreich auf eine funktionierende Demokratie gestoßen wäre statt auf "Schakale aus dem gleichen Bau", wie Mao Zedong gesagt hätte.

Hat der letzte Bundeskanzler und Dollfuß-Nachfolger Kurt Schuschnigg Hitlers Machtphantasmagorien womöglich allzu gut verstanden? Fand er deshalb weder Worte noch Mittel dagegen?

Während Österreichs Polizeikräfte 1938 längst weithin von illegalen Nazis unterwandert waren, galt das nicht für die Armee. Noch heute rumort im Unterbewusstsein des Offizierskorps des österreichischen Bundesheeres die Verbitterung darüber, dass dem damaligen Militär keine Gegenwehr erlaubt war - die freilich nur Österreichs heroische Unterlegenheit bewiesen hätte.

Nun begeht man beklommen 70 Jahre "Anschluss". Müsste aber das fast vergessene 75. "Jubiläum" der Diktatur in Österreich nicht mindestens ebenso bedacht werden, als Urgrund des Scheiterns gegenüber Hitler? Dollfuß hat 1933 die parlamentarische Demokratie in Österreich vernichtet, ein Akt, der schönfärberisch als "Selbstausschaltung des Parlaments" in den Geschichtsbüchern steht.

Hat das Ende der Demokratie und die Etablierung diktatorischer, antiparlamentarischer Auffassungen als Staatsdoktrin nicht auch dem allzu leichten Fall Österreichs an Hitler-Deutschland den Weg bereitet? Fest steht, dass ein überwältigender Teil der Bevölkerung im März 1938 den Führer wahrhaftig und herzlich begrüßt hat, als er auf dem Wiener Heldenplatz pathetisch "vor der Geschichte den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich" meldete.

Liebhaber des Was-wäre-wenn-Denkens gehen noch weiter: Hätte sich in Österreich nur ein Funken Widerstand gerührt, hätte dann nicht auch die reiche Tschechoslowakei beherzte Gegenwehr gewagt, die im Gegensatz zum armen Österreich die modernste Armee des ganzen Kontinents unterhielt; eine Armee, die nach dem Münchner Abkommen im Herbst 1938 und bei der Okkupation im März 1939 demobilisiert wurde, ohne einen Schuss abgegeben zu haben?

Nach einer ausgreifenden Terrorwelle wurde Dollfuss von Nazis bei deren gescheitertem Putschversuch im Sommer 1934 ermordet. Er gilt nicht nur vielen heutigen Christsozialen von der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) als großer Kanzler, eben weil er im "Widerstand" gegen den Nationalsozialismus gefallen sei. Man huldigt ihm als dem Österreich-Patrioten schlechthin, behandelt seine Rolle als Mörder an der Demokratie peripher.

Heute noch hängt Dollfuß' Bildnis in der Ahnengalerie der christsozialen Bundeskanzler im ÖVP-Fraktionszimmer des Österreichischen Nationalrates, quasi als Säulenheiliger ausgerechnet im Parlament, dessen legitime Macht er mit seiner Diktatur brach.

Erst das Nachdenken über die eigene Mitwirkung am Ende der Demokratie vor 75 Jahren könnte das Gedenken ans Ende des Staates durch deutsche Hand vor 70 Jahren zu einer wirklich ehrlichen Sache machen.

Hellfried Brandl, der verhinderte Siegfried, hat diesen Gedenktag nicht mehr erlebt. Um so mehr braucht Österreich analytische Köpfe wie den seinen, um den nötigen Denkprozess anzustoßen.

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SZ vom 08.03.2008/odg
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