Ich bin an der Grenze aufgewachsen, denn von der Stadt Salzburg nach Freilassing sind es nur wenige Kilometer. In meiner Kindheit fuhr ein städtischer Linienbus bis zur Grenze, wo die Fahrgäste ausstiegen, auf der österreichischen Seite ein Zollhaus betraten, dem deutschen Beamten den Pass zeigen mussten und das Gebäude auf der anderen Seite verließen. Dort bestiegen sie einen bayerischen Linienbus, der sie zu den Kaufhäusern Freilassings brachte, die schon auf ihre österreichische Kundschaft warteten.
Der kleine Grenzverkehr in beiden Richtungen, zu dem zahllose Kinder meiner Generation alle paar Wochen von ihren Müttern mitgenommen wurden, diente ausschließlich dem alltäglichen Schmuggel. Die Deutschen kauften in Österreich vor allem einen luxuriösen Artikel, der wegen einer 1948 eingeführten Steuer in ihrem Land vier Mal so teuer war wie in Österreich, nämlich Kaffee. Die Österreicher hingegen kauften alles, was sie kriegen konnten, denn Deutschland war uns im Aufstieg zum Wirtschaftswunderland immer ein paar Schritte voraus. Daher wurden in Freilassing schon Dinge angeboten, die bei uns entweder noch gar nicht zu haben waren oder die herüben viel mehr kosteten als drüben.
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Dass sie dem Bedürfnis vieler Menschen nach Schutz und Abgrenzung nachkommen will, ist nachvollziehbar. Doch ihre Inszenierung einer "gesicherten Grenze" verstellt den Blick auf den europäischen Horizont.
Wenn die Hausfrauen nach Salzburg zurückkehrten, mussten sie im Zollhaus vor dem österreichischen Zöllner ihre meist prall gefüllten Taschen öffnen, damit dieser einen flüchtigen Blick darauf werfen konnte, was illegal in die Heimat eingeführt wurde. Jeder wusste darum, aber die Zahl der Schmuggelnden war so groß, dass es eher um einen symbolischen Akt ging, der beweisen sollte, dass die Obrigkeit ihre Autorität gerade hier an der Staatsgrenze zu bewahren wusste, als um den ernsthaften Versuch, das grenzüberschreitende Treiben zu unterbinden.
In den Sechzigerjahren ging es mit dem massenweisen Schmuggel nach und nach zu Ende, denn Österreich hatte ökonomisch aufgeholt und die Leute brauchten sich nicht regelmäßig in Freilassing mit Joghurt einzudecken, bloß weil er dort etwas billiger war. Die Grenze gab es noch, aber sie hatte ihren milden Schrecken wie ihren lockenden Reiz verloren. Bald kam eine Nostalgie der alten Zeit auf, was auch die Namen der Wirtshäuser verrieten, von denen die zwei bekanntesten in Freilassing "Der Schmuggler" und "Das Zollhäusl" hießen (und heißen). Sie waren seit den Siebzigerjahren zumal bei den Salzburger Studenten sehr beliebt, von denen etliche ihre Zelte gleich in Bayern aufschlugen, weil die Mieten im Umland von Freilassing erheblich günstiger waren als in der immer schon teuren Festspielstadt. Und zur Salzburger Universität war es ja nicht weit.
Heute liegen Freilassing und Salzburg wesentlich weiter auseinander. Auf einer Strecke, für die man damals, als das vereinte Europa noch eine Utopie war, vielleicht eine Viertelstunde brauchte, benötigt man jetzt, wenn man Pech hat, eine Stunde. Denn seit dem 10. Juli wird an der Grenze, von der man schon vergessen haben konnte, dass es sie gab, wieder scharf kontrolliert. Die schlechte Nachricht ist, dass die Nationalisten in Italien, Bayern, Österreich, Ungarn ein Bündnis schmieden, das die Probleme, vor die eine global gewordene Flüchtlingskrise auch Europa stellt, mit nationalen Lösungen und nationalistischen Parolen in den Griff zu bekommen verspricht.
Dass die alten Grenzen wiedererstehen, wurde in den Hauptstädten ersonnen, nicht in den Grenzregionen
Die leider erst langfristig gute, in der Zwischenzeit viel Ärger bewirkende Nachricht hingegen ist, dass sie dabei jämmerlich scheitern, denn Nationalisten sind immer nur kurzfristig zu übernationaler Zusammenarbeit fähig; dann geraten sie unausweichlich miteinander in Konflikt, weil die nationalen Interessen des einen mit den nationalen Interessen des anderen kollidieren. So möchte die österreichische Regierung die Grenzen zu Italien und Slowenien jederzeit einem "strengen Grenzmanagement" unterwerfen können; gleichzeitig aber will sie den heimischen Spediteuren und Touristen am Brenner wie im steirischen Spielfeld freie Fahrt garantieren. So beabsichtigt ein jeder, den anderen nicht auf europäische Zusammenarbeit, sondern auf die eigenen nationalen Anliegen zu verpflichten, was natürlich nicht lange klappen kann.
An einem heißen Tag vor einigen Wochen war ich kühn genug, mich ins Auto zu setzen und über das "Deutsche Eck" auf den Weg nach Italien zu machen, mit einem ersten Ziel in Südtirol, das zu erreichen der Routenplaner im Internet wenig mehr als vier Stunden veranschlagte. Als ich in die Nähe des Grenzübergangs Walserberg kam, wurde mir klar, dass daraus eher sechs Stunden würden, ging es doch bald nur im Schritttempo weiter und dann gar nicht mehr.
Als wir in der Kolonne endlich doch beim verschlagartigen Häuschen anlangten, vor dem jeder Wagen halten musste, sah ich in ihm drei blutjunge Polizisten, die in schweren Schutzwesten steckten, Maschinenpistolen umgehängt hatten und erschöpft ins Leere blickten. Zwischen Österreich und Deutschland gibt es Hunderte Kilometer an grüner Grenze und rund 80 Grenzübergänge, gerade drei davon werden überwacht. Die Burschen konnten einem leidtun, nicht nur weil sie hier in der Sommerhitze stehen, sondern auch weil sie wissen mussten, dass ihre Arbeit niemals ihren vorgeblichen Zweck erfüllen würde. Wie die Zöllner vor fünfzig Jahren sind sie zu nichts anderem abkommandiert, als symbolische Präsenz zu zeigen. Denn die bayerische Bevölkerung soll wissen, dass die Ängste, die sie mehrheitlich gar nicht hat, von der Regierung ernst genommen werden.
Dass die alten Grenzen aus neuem europäischen Geist wiedererstehen, wurde in den Hauptstädten ersonnen, nicht in den Grenzregionen. Auch die Freilassinger, weltoffene Leute seit je, zu deren 17 000 Einwohnern Angehörige von nicht weniger als 83 Nationen zählen, sind nicht selbst auf die Idee gekommen, ihre Grenze aufzurüsten, denn das Leben in ihrer Stadt leidet darunter, wenn sie nicht nach beiden Richtungen offen bleibt.