SPD: Klaus Wowereit im Gespräch:"Die sozialen Unterschiede sind krasser geworden"

Klaus Wowereit will Regierender Bürgermeister von Berlin bleiben. Ein Gespräch über seine Herausforderin, die Rente mit 67 und Bildungsgutscheine.

Th. Denkler, H.-J. Jakobs und N. Fried

Klaus Wowereit, 56, ist der Typ Politiker, der ohne Humor nicht auskommt. Da würden die Leichen seiner Vorgänger ausgebuddelt, scherzt der Jurist auf dem Balkon vor seinem Büro im Roten Rathaus von Berlin. Da unten wird der Boden aufgerissen für den U-Bahn-Bau, alte Mauerreste sind zu sehen und gelegentlich winken Passanten hoch. Der publicitybewusste Regierende Bürgermeister ist neun Jahre im Amt und kandidiert im September 2011 erneut.

Buergermeister Wowereit auf Kieztour durch Kreuzberg

Seit fast zehn Jahren im Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin: Klaus Wowereit.

(Foto: ddp)

sueddeutsche.de: Herr Wowereit, können Sie sich vorstellen, bis 67 Politiker zu bleiben?

Klaus Wowereit: (lacht) Das weiß ich noch nicht. Ich werde jetzt erst mal 57 und in der Politik sind zehn Jahre schwer zu überschauen. Aber im Ernst: Ich will nochmal eine weitere Legislaturperiode als Regierender Bürgermeister gestalten.

sueddeutsche.de: Sie sind bald zehn Jahre im Amt. Da könnten Sie doch sagen: "Es reicht!"

Wowereit: Vor dem Beginn einer neuen Legislaturperiode muss man sich selbstverständlich immer die Frage stellen, ob man noch mal antreten will. Diese Frage habe ich mir gründlich gestellt und sie beantwortet. Ich folge gerne dem Vorschlag meines Landesvorsitzenden, mit voller Überzeugung und voller Kraft wieder zu kandidieren.

sueddeutsche.de: 2010 ist das Jahr der politischen Rücktritte. Der Hesse Roland Koch sagt: "Politik ist nicht mein Leben." Der Hamburger Ole von Beust findet: "Alles hat seine Zeit." Machen Sie solche Sätze nachdenklich?

Wowereit: Es ist gut, wenn Politiker zu jeder Zeit nachdenklich sind. Und natürlich muss jeder auch immer wieder beurteilen, was er noch leisten kann und will.

sueddeutsche.de: Koch und von Beust haben beide einen stark auf ihre Person zugeschnittenen Wahlkampf geführt. Finden Sie es in Ordnung, wenn sie dann mitten in der Legislaturperiode hinwerfen? Das grenzt ja an Wahlbetrug.

Wowereit: Erst wird Politikern immer wieder vorgeworfen, sie klebten an ihren Sesseln. Jetzt ist es mal umgekehrt - und auch nicht richtig. Ich glaube, jeder, der eine derart verantwortungsvolle und auch belastende Position ausfüllt, muss das Recht haben, so eine persönliche Entscheidung für sich selber zu treffen.

sueddeutsche.de: Sie sprechen von persönlicher Entscheidung. Ist es da sinnvoll, die Menschen bis 67 arbeiten zu lassen, wie die SPD es bisher wollte?

Wowereit: Moment, die Rente mit 67 war nie eine Idee der Sozialdemokratie. Sie ist von der SPD nie gefordert, sondern von der CDU 2005 in den Koalitionsvertrag eingebracht und vom zuständigen Minister Franz Müntefering umgesetzt worden. Das ist ein feiner Unterschied.

sueddeutsche.de: Mit Verlaub, der Sozialdemokrat Müntefering hat die Regelung mit aller Macht verteidigt. Und der Koalitionsvertrag ist von einem SPD-Parteitag angenommen worden.

Wowereit: Halten wir fest, es war keine ureigene SPD-Forderung. Das finde ich auch deshalb wichtig, um heute die innerparteiliche Diskussion zu verstehen.

sueddeutsche.de: Was ist Ihre Position zur Rente mit 67? Wollen Sie das Gesetz kippen? Oder wollen Sie nur die Zahl raus haben?

Wowereit: Der demografische Wandel muss beherrschbar bleiben. Da ist die Rente ein wichtiges Thema. In Zukunft werden mehr Menschen länger Geld aus der Rentenkasse bekommen als heute. Das Problem lässt sich aber nicht lösen, indem wir einen Euro mehr in die Rentenkasse einzahlen. Für dieses Problem gibt es heute noch nicht die richtigen Antworten. Gleiches gilt übrigens auch für die Pflege.

sueddeutsche.de: Die Rente mit 67 ist doch der Versuch einer Lösung.

Wowereit: Das Festhalten an der generellen Einführung der Rente ab 67 ist aus meiner Sicht völlig falsch. Sie steht in Diskrepanz zur gelebten Realität. Das heutige durchschnittliche Renteneintrittsalter liegt doch eher weit unter 65. Viele sind noch nicht mal 60 Jahre alt, wenn sie aufhören zu arbeiten. Die Wenigsten gehen heute mit 65 in Rente. Darum ist die Rente mit 67 in meinen Augen eine Phantomdebatte. Wenn man das Rentenalter aus demographischen oder rentenmathematischen Gründen im Durchschnitt erhöhen will, dann müssen schlicht mehr Menschen bis 65 arbeiten. Die pauschale Rente mit 67 ist angesichts des niedrigeren realen Renteneintrittsalters zudem faktisch mit größeren finanziellen Abschlägen verbunden. Das empfinden die Menschen als ungerecht. Sie fühlen sich bestraft, wenn gesagt wird, sie müssten bis 67 arbeiten.

"Rente mit 67 ist emotional ein Schlag ins Gesicht"

sueddeutsche.de: Wie wollen Sie mehr ältere Menschen in Arbeit bringen?

Klaus Wowereit auf Stadtbezirkstour

"Die Rente mit 67 ist den Menschen nicht zu vermitteln": Klaus Wowereit auf Stadtbezirkstour durch Friedrichshain-Kreuzberg.

(Foto: dpa)

Wowereit: In Zukunft werden ohnehin mehr ältere Menschen in Arbeit kommen. Auch das hat etwas mit dem demografischen Wandel zu tun. Unternehmer werden es sich nicht mehr leisten können, auf ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu verzichten, die sie heute noch mit staatlich subventionierten Sonderzahlungen aus ihren Betrieben verdrängen. Es wird ein Ende haben müssen mit dem Irrsinn, Arbeitnehmern über 50 keine Chance mehr zu geben auf dem Arbeitsmarkt. Es werden mehr Menschen länger arbeiten müssen. Aber dafür gibt es genügend Spielraum bis 65. Um den Anteil derer, die bis 65 arbeiten, zu erhöhen, brauchen wir keine Rente mit 67.

sueddeutsche.de: Wie soll das rein rechnerisch funktionieren? Laut der Rentengarantie dürfen die Renten nicht sinken. Müssten dann nicht die Versicherungsbeiträge steigen?

Wowereit: Die Rente mit 67 ist auch versicherungsmathematisch Unsinn. Zumal bei einer generellen Rente mit 67 so viele Ausnahmetatbestände geschaffen werden müssten, dass das allein schon zu einer erheblichen Belastung des Rentensystems führen würde. Von einem möglichen finanziellen Effekt der Rente mit 67 würde nichts mehr übrig bleiben. Sie ist mathematisch nicht richtig und auch emotional ein Schlag ins Gesicht der Menschen, die es gesundheitlich nicht bis 67 packen.

sueddeutsche.de: Früher haben Sie gesagt, die Rente mit 67 sei den Menschen nicht zu vermitteln, aber versicherungsmathematisch richtig.

Wowereit: Da gibt es tatsächlich inzwischen einen Erkenntniszuwachs, den Sie mir zugestehen werden.

sueddeutsche.de: Ihr Mit-Parteivize Olaf Scholz hat die Aufgabe, sich der Sozialsysteme anzunehmen. Hat er für den SPD-Parteitag Ende September in Berlin schon einen konkreten Vorschlag erarbeitet, um von dieser für ihre Partei unangenehme Symbolzahl 67 wegzukommen?

Wowereit: Die Zahl ist nicht als "unangenehm für die SPD" abzutun. Die Idee stammt, wie gesagt, von der Union. Und Millionen von Menschen empfinden sie eben immer noch eher als Schlag ins Gesicht, als Verstoß gegen ihr Gerechtigkeitsgefühl.

sueddeutsche.de: Und das sieht ihr Fraktionschef im Bundestag, Frank-Walter Steinmeier, genauso?

Wowereit: Es ist kein Geheimnis, dass diese Frage in der SPD diskutiert wird. Das ist normal in einer Partei wie der SPD. Ich hoffe, dass das Thema Rente mit 67 nach dem Parteitag geklärt ist. Wir hätten es besser schon im letzten Herbst abgeräumt.

sueddeutsche.de: Auch ein anderes Thema hätte die SPD früher abräumen können. Die Erhöhung des Schonvermögens für Hartz-IV-Empfänger haben stattdessen Union und FDP besorgt. Das war ein großes Symbolthema für die Abstiegsangst der Mittelschicht. Wie sehr schmerzt es einen Sozialdemokraten, dass das die SPD nicht geschafft hat?

Wowereit: Wir haben die Anrechenbarkeit von Vermögen ja schon in der großen Koalition verändert. Aber in der Tat: Von vielen ist die Tragweites dieses Themas nicht verstanden worden. Es ist sicherlich richtig, dass niemand jenseits der eigenen Vermögensverhältnisse Anspruch auf staatliche Sozialleistungen anmelden kann. Es ist aber völlig kontraproduktiv, den Menschen erst zu sagen, sie sollen fürs Alter vorsorgen und ihnen diese Vorsorge wieder zu nehmen, wenn sie Hartz IV beantragen müssen.

sueddeutsche.de: Dann könnten Sie doch der FDP jetzt mal ganz offen zu vorbildlicher sozialdemokratischer Politik gratulieren.

Wowereit: Das war keine sozialdemokratische Politik der FDP. Sie sollte der schwarz-gelben Koalition nur einen scheinbar sozialen Anstrich geben.

sueddeutsche.de: Es steht eine umfassende Reform der Hartz-IV-Gesetze an. Reichen die Hartz-IV-Sätze für Erwachsene und Kinder aus?

Wowereit: Das müssen die Fachleute beurteilen. Die Höhe der Sätze muss immer wieder den Preisen angepasst werden, erst recht nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes Anfang des Jahres. Die Bundesarbeitsministerin ist jetzt gefordert, Vorschläge für die Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze zu unterbreiten. Wichtig ist, dass ein Abstand gewahrt bleibt zu denen, die arbeiten, und dass Kinder die Chance bekommen, an Kultur, Sport und Bildung teilzuhaben.

"Gutscheine sind diskriminierend"

Beginn der Bauarbeiten zur Verlaengerung der U-Bahn-Linie 5

Sanierungsarbeit im Dienste der SPD: Parteivize Klaus Wowereit.

(Foto: ddp)

sueddeutsche.de: Arbeitsministerin Ursula von der Leyen will Gutscheine womöglich in Form von Chipkarten an bedürftige Kinder ausgeben, die sie in Sportvereinen oder Musikschulen einlösen können. Gegner sagen, das würde diese Kinder als Hartz-IV-Empfänger stigmatisieren. Wie sehen Sie das?

Wowereit: Wir haben diese Debatten alle schon mal geführt. Es gab ja schon Gutscheine im alten Sozialhilfesystem. Das war eine Diskriminierung. Sie konnten mit den Gutscheinen nur in einem bestimmten Geschäft einkaufen und da oft auch noch teuer. Da ist dann doch der Gutschein an der Kasse noch hochgehalten worden - damit auch jeder mitbekam, wer da gerade einkauft. Darum sind die Gutscheine ja auch in konservativ geführten Ländern abgeschafft worden.

sueddeutsche.de: Also mehr Geld für die Kinder von Hartz-IV-Empfängern?

Wowereit: Das wird nicht ausreichen, weil das Geld in einigen Familien nicht beim Kind ankommt. Für die meisten Familien wäre es gut, einfach etwas mehr Geld zu haben. In manchen Familien wäre das unvernünftig. Das Schwierige ist, dafür eine generelle Regelung hinzubekommen. Mir wäre es lieber, wenn jeder Einzelfall individuell geprüft werden könnte. Darum bin ich skeptisch gegen ein Gutscheinsystem als generelles System. Als Ergänzung aber, um zu garantieren, dass gewisse Leistungen auch beim Kind ankommen, ist es in Ordnung.

sueddeutsche.de: Das alles sind Nachwehen der Agenda-Politik von Altkanzler Gerhard Schröder, die am Ende zu der desaströsen Wahlniederlage 2009 geführt haben. Sie haben danach gesagt, die SPD müsste jetzt wieder aufgebaut werden. Wie gehen die Bauarbeiten voran?

Wowereit: Wir haben ziemlich schnell Tritt fassen können auch in unserer Rolle als Oppositionspartei. Es war nicht leicht, nach mehreren herben Niederlagen aus diesem Tief wieder herauszukommen. Insgesamt macht die Parteiführung durch gute Zusammenarbeit deutlich, dass wir in der Lage sind, Vertrauen zurückzugewinnen, auch nach innen, innerhalb der Partei.

sueddeutsche.de: Dass die SPD in den Umfragen wieder Land sieht, ist also allein das Verdienst der Parteiführung?

Wowereit: Sicherlich hilft uns da die Bundesregierung mit ihrer schlechten und oft chaotischen Politik sehr. Aber die Partei hat doch auch selbst einen guten Beitrag geleistet. Unsere neuen Zukunftswerkstätten und Dialogprozesse mit der Basis führen dazu, dass sich die SPD wieder gut aufstellt. So entsteht Geschlossenheit und Vertrauen. Vom Wähler wird das honoriert. Das war von Anfang an unser Ziel.

sueddeutsche.de: Wie groß ist Ihr Anteil an dieser Sanierungsarbeit?

Wowereit: Ich leite beispielsweise die Zukunftswerkstatt Integration. Wir verstehen Integration als Weg zu einer umfassenden sozialen Teilhabe. Das schließt ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger ein - aber auch andere gesellschaftliche Gruppen, die außen vor sind und sich nicht mehr als Teil der Gesellschaft sehen. Das sind auch Menschen deutscher Herkunft, die in Armut leben, oder auch ältere Mitbürger.

sueddeutsche.de: Was ist in Deutschland schief gelaufen? Früher waren Teilhabe und Aufstiegsprozesse selbstverständlich - Sie selbst haben Chancen ergriffen und sich aus einfachen Verhältnissen hochgearbeitet. Inzwischen haben sich manche einfach aufgegeben.

Wowereit: Die Unterschiede sind krasser geworden. In meiner Jugend gab es nicht diese Kluft zwischen Arm und Reich. Der Apothekersohn, der mein Freund war, hatte auch keinen Computer und ist nicht in die Karibik gefahren; er ging wie ich zum Wandern und trug die selbstgestrickten Pullover von Muttern. Und es war eine Situation mit viel Wachstum, in der aufgebaut wurde. Wir sind jetzt aber in schwierigen wirtschaftlichen Phasen mit hoher Arbeitslosigkeit ...

sueddeutsche.de: ... was in Problemzonen Berlins zu Jugendgewalt, Selbstjustiz mächtiger Clans und Drogenproblemen führt. Mit Integration hat das nichts zu tun. Die verstorbene Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig hat darüber ein Buch geschrieben, das sofort zum Bestseller wurde ...

Wowereit: ... kein Wunder!

sueddeutsche.de: Was bedeutet ihre schonungslose Bestandsaufnahme für das Image Berlins?

Wowereit: Gar nichts. Das Buch hat ja nicht exklusiv mit unserer Stadt zu tun, sondern es beschreibt Probleme.

sueddeutsche.de: Es spielt nur in ihr...

Wowereit: Sie hat als Richterin ja hier gelebt. Aber eine Stadt wie Berlin steht stellvertretend für die Entwicklung in vielen Metropolen. Die Problematik, die Frau Heisig beschreibt, gibt es in Köln, Hamburg, Rostock und anderswo.

sueddeutsche.de: Das macht es nicht besser. Heisigs Anliegen war, sich besser um straffällige Kinder und Jugendliche zu kümmern und rechtzeitig Strafen auszusprechen. Können Sie das nachvollziehen?

Wowereit: Ja. Die Grundfrage ist: Wie kann man kriminell gewordene Jugendliche wieder auf einen guten Weg zurückbringen? In einem Rechtsstaat gibt es da Grenzen. Was machen sie mit einem elfjährigen Dealer, der nicht strafmündig ist? Einerseits haben wir einen Erziehungsauftrag und müssen dem Wohl des Kindes gerecht werden. So junge Täter sind immer auch Opfer, die geschützt werden müssen. Der elfjährige Dealer wird doch von Leuten, die dahinterstehen, regelrecht missbraucht. Andererseits müssen wir die Gesellschaft auch vor jungen Straftätern schützen.

sueddeutsche.de: In der Öffentlichkeit haben Sie den Eindruck erweckt, sie wollten straffällige Kinder wegsperren. Sie wirken wie ein "Roland Koch für Arme", der 13 Monate vor den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus am rechten Rand punkten will.

Wowereit: Wieso? Es ist doch völlig richtig, so ein Kind vor sich selbst und vor den Hintermännern zu schützen. Das geht, indem wir es rund um die Uhr pädagogisch betreuen oder es an Orten außerhalb Berlins unterbringen. Wir haben jetzt eine Arbeitsgruppe in der Jugendverwaltung eingerichtet, weil es da offenbar Lücken in der täglichen Praxis gibt. Mit Roland Koch oder Wahlkampf hat das nichts zu tun.

sueddeutsche.de: Warum handelt der Regierende Bürgermeister nicht einfach?

Wowereit: Weil der Regierende Bürgermeister in einem Rechtsstaat nicht einfach anordnen kann, wo das Kind hinkommt. Dafür haben wir Jugendamt, Richter und Gesetze. Wir reden hier ja im Übrigen über wenige Fälle und nicht über ein Massenphänomen...

sueddeutsche.de: ... aber auch darüber, dass es geeignete Betreuungsplätze für solche Problemkinder gar nicht in ausreichender Zahl gibt.

Wowereit: Das sagen Sie! Es gibt Plätze. Und wenn welche fehlen, müssen sie geschaffen werden. Das ist immer noch preiswerter, als andauernd die Polizei mit solchen Fällen zu beschäftigen.

sueddeutsche.de: Herr Wowereit, zugkräftige Themen für den Wahlkampf in Berlin werden Sie nötig haben. Nach aktuellen Umfragen liegen SPD und Grüne in der Hauptstadt gleichauf. Muss man sich für die Zukunft eher auf Grün-Rot als auf Rot-Grün einstellen?

Wowereit: Nein. Das werden die Wahlergebnisse auch zeigen.

sueddeutsche.de: Die Grünen stellen womöglich die populäre Renate Künast als Berliner Spitzenkandidatin auf. Das könnte eng für Sie werden.

Wowereit: Das sehe ich ganz gelassen. Renate Künast ist eine gute Frau, die seit Jahrzehnten Politik macht. Ich mag sie, wir verstehen uns, aber wir sind in unterschiedlichen Parteien. Wenn sie aber antritt, muss sie es ohne Wenn und Aber tun. Rückfahrkarten auf die bequemen Sitze im Bundestag gibt es dann nicht mehr. Sie muss sich für Berlin entscheiden.

sueddeutsche.de: Würden Sie als Kultursenator unter einer Regierenden Bürgermeisterin Renate Künast arbeiten wollen?

Wowereit: Die SPD wird die stärkste Partei sein und wieder die Führung der Stadt übernehmen. Zu erwarten wäre übrigens doch auch, dass eine in den Medien hochstilisierte Alternative Künast oder Wowereit unsere Wähler antreiben würde. Das könnte ganz schlecht für die Konservativen und auch für die Linke sein. Die kämen dann kaum vor.

sueddeutsche.de: In jüngster Zeit häufen sich die Vorwürfe von Spitzengenossen wie dem SPD-Chef Sigmar Gabriel, die Grünen sollten sich klar äußern, mit wem sie Politik machen wollten. Geschadet hat es aber den Grünen nicht, etwa in Bremen mit der SPD, in Hamburg mit der CDU und im Saarland in einer "Ampel"-Koalition mit CDU und FDP zu regieren.

Wowereit: Seit längerer Zeit gibt es in großstädtischen Milieus einen erheblichen Anteil von Menschen, die sich grün orientieren. Die Grünen sind in die Jahre gekommen und bürgerlich geworden. Sie taugen nicht mehr als Schreckgespenst. Das neue Phänomen ist doch, dass sich Grüne und FDP um denselben Apotheker streiten. Sie sprechen Leute an, die sich als liberal und ökologisch verstehen. Und zurzeit profitieren die Grünen auch davon, lange von der Regierung fern gewesen zu sein. Sie werden eben nicht für Probleme und Krisen verantwortlich gemacht.

"Künast oder Wowereit - das mobilisiert unsere Wähler"

Wowereit haelt sich fuer Wahl 2011 mehrere Optionen offen

Im Herbst 2011 wird in Berlin gewählt. Klaus Wowereit hat keine Angst vor einer grünen Spitzenkandidaten Renate Künast - sagt er.

(Foto: ddp)

sueddeutsche.de: Vielleicht hat die SPD einfach verschlafen, für urbane Zielgruppen attraktiv zu wirken.

Wowereit: In Berlin hat die SPD bei der letzten Regionalwahl 30 Prozent geholt. Jetzt liegen wir bei 27 Prozent, das ist nicht viel schlechter. Aber ich will nicht leugnen: Wir haben Schwierigkeiten, in ein gewisses bürgerliches Milieu vorzudringen, das sich selbst gerne als kreativ bezeichnet. Die SPD wirkt manchen da als Volkspartei offenbar zu differenziert oder, vulgär ausgedrückt, zu spießig. Das ist eine Gefahr. Neben den traditionellen Wählern aus niedrigen Einkommensschichten müssen wir der neuen Generation Mittelschicht Angebote machen. Die sind nicht strikt konservativ und wären für die Sozialdemokratie ansprechbar, werden aber zu oft von den Grünen abgeholt.

sueddeutsche.de: Jetzt packen Sie aber nicht das alte Modell der "Neuen Mitte" aus, das Gerhard Schröder vor zwölf Jahren anpries.

Wowereit: Nein. "Mitte", das war immer eine definitorische Frage. Ich meine eine gut ausgebildete, ideologisch nicht festgelegte Wählerschicht, die eher links-progressiv einzuordnen ist. Das sind Citoyens, die sich um soziale Fragen und die Zivilgesellschaft kümmern - ein wachsendes Potential in den Städten. Ich meine, dass die Politik, für die ich stehe, sie sehr wohl einbezieht.

sueddeutsche.de: Sehen Sie mögliche Schwächen der Grünen, die von der SPD ausgenutzt werden könnten?

Wowereit: Inhaltlich haben wir in letzter Zeit von den Grünen kaum profilierte Vorschläge gehört. Sie werden zur Zeit in der Öffentlichkeit auch nur selten kritisch hinterfragt. Aber in Wahlkämpfen müssen sie sich positionieren. Nur unten durchzusegeln im Windschatten anderer, das wird nicht ausreichen. Die Anhänger der Grünen wollen ein starkes Profil. Je beliebiger sie werden, desto weniger verfangen ihre Parolen. Jeder Wähler, der sein Kreuz bei dieser Partei macht, will doch wissen: Heißt das dann Rot-Grün oder Schwarz-Grün oder sonst irgendetwas?

sueddeutsche.de: Monatelang hat die Frage, ob die SPD mit der Linken koalieren solle, die Partei gelähmt. Sind Bündnisse mit der Linken leichter möglich, seitdem der frühere SPD-Held Oskar Lafontaine dort auf den Parteivorsitz verzichtete?

Wowereit: Nein. Die Grundfragen der Linkspartei sind deswegen ja nicht entschieden. In welche Richtung wollen die? Es sind immer noch zwei Parteien in einer Partei. Das zeigt sich in der Programmatik. Für die überfälligen Antworten muss die Linkspartei selbst sorgen. Will sie Regierungsverantwortung übernehmen oder nicht?

sueddeutsche.de: Verzeihung, die Linke ist in Berlin Regierungspartner der SPD.

Wowereit: In Berlin und in Brandenburg hat die Partei diese Frage bejaht, hier funktioniert die Zusammenarbeit gut. In Nordrhein-Westfalen ist ihr Landesverband in einem desaströsen Zustand. Da ging es nicht. Diese Richtungskämpfe müssen in der Linken entschieden werden. Zurzeit ist da die Lage sehr diffus.

sueddeutsche.de: In einem Fünf-Parteien-System ist Regieren für die SPD wahrscheinlich nur mit der Linken möglich - und die Grünen bräuchte die SPD dann als Stabilitätsfaktor.

Wowereit: Das sind, wenn wir über den Bund reden, die Gedankenspiele von gestern. Heute gilt: SPD und Grüne sind auch alleine regierungsfähig, allerdings mit der SPD auf dem Fahrersitz. Ich kann ja so langsam verstehen, dass man sich von Wunschvorstellungen einnebeln lässt. Aber auf Bundesebene liegen die Grünen deutlich hinter der SPD. Das wird auch so bleiben.

sueddeutsche.de: Sie meinen, die SPD müsse sich nicht um die Linke kümmern?

Wowereit: Ich sehe nur die Realität: In aktuellen Umfragen hat Rot-Grün im Bund eine Mehrheit. Die These, es werde nicht mehr zu einer linken Zwei-Parteien-Koalition reichen, ist ad acta gelegt. Rot-Grün ist möglich als Alternative zu dieser schwarz-gelben Chaostruppe im Bund.

sueddeutsche.de: Die CDU-CSU-FDP-Koalition hat immerhin noch drei Jahre Zeit, sich zu ordnen. Und Rot-Grün war zu Beginn nicht minder chaotisch.

Wowereit: So schlimm waren wir nicht. Und vor allem: Das wird sich in der aktuellen Bundesregierung nicht ändern. Die Pole zwischen FDP und CSU - mit der entscheidungsschwachen Kanzlerin dazwischen - signalisieren auf Dauer keine Besserung. Da wird ein neuer Pressesprecher wenig helfen. Auch wenn der vielleicht ein noch schöneres Gesicht macht als der alte.

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