Süddeutsche Zeitung

Kirchenasyl:Ein Appell in größter Not

Kirchenasyl ist keine Zumutung für den Rechtsstaat. Kirchenasyl ist berechtigter Widerstand gegen die Unbarmherzigkeit des Staates. Die Demokratie braucht eine Zivilgesellschaft, die sich Kritik anmaßt und dem Staat zumutet, sich zu korrigieren.

Von Bernd Kastner

Kirchenasyl ist eine Zumutung für den Rechtsstaat. Da glauben einige Christen, dem Staat erklären zu müssen, wen er schützen soll, und nehmen sich ein Sonderrecht heraus: Sie beherbergen Flüchtlinge, weil der Staat es nicht wagt, seine Polizei in Pfarrhäuser zu schicken. Welch Anmaßung.

Tatsächlich? Wer mit dem Rechtsstaat gegen das Kirchenasyl argumentiert, tut diesem Rechtsstaat keinen Gefallen. Die Demokratie braucht eine Zivilgesellschaft, die sich Kritik anmaßt und dem Staat schon mal zumutet, sich zu korrigieren. Nichts anderes ist Kirchenasyl: Engagierte Bürger - meist, aber nicht immer gläubige Christen - nutzen Kirchenräume, um Menschen in großer Not vorübergehend vor Abschiebung zu schützen. Menschen, deren Schicksal danach schreit, dass die Behörden es nochmals betrachten, und zwar unter humanitären Aspekten. Kirchenasyl ist der Appell von helfenden Bürgern und verzweifelten Flüchtlingen an Asyl-Beamte, ein zweites oder drittes Mal zu überlegen, ob ein Opfer von Zwangsprostitution wirklich den endlich gefundenen sicheren Ort verlassen muss; oder ob es sich Deutschland nicht doch leisten kann, einem Schwerkranken Hilfe zu gewähren.

Kirchenasyl ist nicht nur christlich-politische Tradition. Das Ziel der Intervention ist auch gesetzlich verankert: Aufnahme in Deutschland aus humanitären Gründen. So haben bislang die meisten Kirchenasylfälle ein gutes Ende gefunden: Deutschland schiebt nicht ab, sondern erklärt sich fürs Asylverfahren zuständig.

Kirchen und Staat hatten 2015 in gegenseitigem Respekt das Kirchenasyl geregelt. Im August aber haben die Innenminister von Bund und Ländern sowie das Asylbundesamt diese Regeln einseitig verschärft. Seither zwingen sie mit einem absurden bürokratischen Trick die Gemeinden, Flüchtlinge bis zu eineinhalb Jahre zu beherbergen. Das ist für die Helfer und die zu Schützenden, die in dieser Zeit die Kirchenräume aus Angst vor Abschiebung praktisch nie verlassen, eine übermäßige Belastung. Hinzu kommt, dass das Asylbundesamt offenbar neu definiert hat, wer als humanitärer Härtefall gilt: so gut wie niemand mehr.

Der Staat ist unbarmherzig. Er maßt sich an, auf seinem Nein zu beharren

Also schickt Deutschland auch Menschen in größter Not zurück; nicht ins Heimatland, aber doch in europäische Staaten, die humane Asylstandards zu oft verletzen. Das ist im EU-Mitgliedsland Bulgarien so, und auch in Italien. Deutsche Behörden versetzen nicht nur die betroffenen Flüchtlinge in Angst. Ebenso gravierend ist, dass der Staat das Wissen und die Empathie vieler Bürger ignoriert. Dabei sind sie es, die den Verzweifelten nah sind, sie können humanitäre Notlagen meist am besten einschätzen.

Es sind pro Jahr nur einige Hundert Menschen, die Schutz in Kirchen suchen - verschwindend wenig im Vergleich zur Gesamtzahl von monatlich 15 000 neu Ankommenden. So ist es fast lächerlich, dass die Innenminister das Kirchenasyl in ein weiteres Instrument der Abschottung verwandeln wollen: Nicht einmal die im Pfarrhaus dürfen Milde erwarten. Diese Botschaft hält niemanden von der Flucht ab, aber sie kommt bei den vielen helfenden Bürgern an. Sie demotiviert.

Die Unbarmherzigkeit ist die eigentliche Anmaßung beim Kirchenasyl. Der Staat maßt sich an, auf einem Nein zu beharren. Er täte gut daran, wieder mehr Größe zu zeigen. So will es der humanitäre Geist des Rechtsstaates.

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Quelle:
SZ vom 27.12.2018
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