Süddeutsche Zeitung

Kirche:Runter von der Kanzel

Die evangelische Kirche schrumpft zusehends. Ihr neuer Ratsvorsitzender wird sie als Institution neu bestimmen müssen - sonst droht sie, bedeutungslos zu werden.

Von Matthias Drobinski

Im Jahr 1782 veröffentlichte der Göttinger Polizeidirektor Johann Heinrich Gottlieb von Justi seine "Grundsätze zur Policeywissenschaft"; dort widmete er ein Kapitel der Religion und dem "Kirchen-Wesen". Die Religion, schreibt er, sei verantwortlich für den sittlichen Zustand der Untertanen; der Staat müsse deshalb ein Interesse an frommen Bürgern haben. Eine "Religionspolicey" solle dafür sorgen, dass "Ehrfurcht gegen die Gottheit, Gehorsam gegen die Gesetze, Treue gegen den Staat und sittlichgute Gesinnungen gegen ihre Mitbürger" gepredigt würden. Kurz: Eine ordentliche Religion spart jede Menge Polizisten. Der Staat garantiert der Religion eine Sonderstellung, damit die ihn legitimiert und das Land befriedet - dieser Gedanke geht von der Reformation über den Göttinger Polizeipräsidenten bis zur Islamkonferenz der Innenminister Wolfgang Schäuble, Hans-Peter Friedrich und Thomas de Maizière.

Was das mit Heinrich Bedford-Strohm zu tun hat, dem bayerischen Landesbischof und neu gewählten Ratsvorsitzenden der evangelischen Kirche in Deutschland? Es spricht viel dafür, dass ein derart formalisiertes Bündnis zwischen Staat und Religionen bald an seine Grenzen kommen wird. 2014 sind 275 000 Menschen aus der evangelischen und 218 000 aus der katholischen Kirche ausgetreten, das ist nur ein Indiz dafür. Die Kirchen haben an Bindungs- und Orientierungskraft verloren. In der kommenden Generation dürfte es mehr Konfessionslose als Kirchenmitglieder geben. Dann werden die Kirchen noch viel stärker als heute erklären müssen, warum es gut ist, dass sie ihren Platz in der Gesellschaft haben. Können sie das nicht, werden sie manchen warmgesessenen Sitz räumen müssen.

Die evangelische Kirche ist von diesem Prozess besonders betroffen. Die Leute mögen auf die starre katholische Kirche schimpfen - sie wenden aber noch stärker den Protestanten den Rücken zu, die doch so moderne-kompatibel erscheinen. Man kann nun hämisch sagen: So geht es, wenn man sich dem Zeitgeist anpasst. Aber vielleicht wollen einfach nicht mehr so viele Deutsche Mitglied einer Kirche sein, wenn die Vorteile fehlen, die lange damit verbunden waren. Und die Kirchen müssen sich darauf einstellen, ohne dafür die Menschheit zu beschimpfen.

Der neue Ratsvorsitzende will den Glauben besser begründen

Und da kann ein Rat der EKD mit Bedford-Strohm an der Spitze der evangelischen Kirche tatsächlich Perspektiven öffnen. Die "Öffentliche Theologie", die er gemeinsam mit seinem Lehrer und ehemaligen Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber vertritt, hat sich von Martin Luthers altem Thron-und-Altar-Bündnis verabschiedet und betont ein anderes Erbe der Reformation: die des freien Christenmenschen und Bürgers, dem um des Glaubens und Gewissens willen die Welt nicht egal ist. So ist die Kirche nicht mehr so sehr auf institutionelle Absicherungen angewiesen. Sie sieht sich stärker als ein Art Nichtregierungsorganisation, die Gott in die Welt bringt und sich aus religiösen Gründen in Politik und Alltag stürzt.

Wolfgang Huber arbeitete als Ratsvorsitzender daran, dass die evangelische Kirche gegen den Trend wachse. Es hat, bei allen großen Verdiensten Hubers, nicht geklappt. Jetzt, mit Bedford-Strohm, könnte die evangelische Kirchen daran arbeiten, dass sie auch als Minderheit eine Zukunft hat. Am 31. Oktober 2017, 500 Jahre nach Martin Luthers legendärem Thesenanschlag in Wittenberg, endet das große Reformationsjubiläum. Schön wird es sein, das Fest - und dann? Dann wird sich der Protestantismus in Deutschland neu seiner selbst vergewissern müssen.

Es wird eine eindeutig religiöse Selbstvergewisserung sein müssen, will die evangelische Kirche nicht beliebig werden. Einmal, weil die Gläubigen in der Kirche sind, weil sie beten wollen und einen suchen, der für sie betet, der sie bei der Hochzeit wie der Taufe oder der Beerdigung des Partners begleitet. Und dann aber auch, weil das Verhältnis von säkularem Staat, Gesellschaft und Kirchen seine produktive Spannung daraus gewinnt, dass die Kirchen übers Soziale, Ethische und Moralische hinaus die Religion in die Debatte bringen.

Zu Recht schiebt der säkulare Staat allen religiösen Allmachtsfantasien einen Riegel vor; mit dem gleichen Recht begrenzt aber die religiöse Dimension die Allmachtsfantasien des Staates: Setze dich nicht absolut. Das ist ja die gegenwärtige Konstellation des Staat-Kirche-Konflikts in der Flüchtlingsdebatte: Gegen das Interesse des Staates an der Begrenzung des Zuzugs und der effizienten Verwaltung der Angekommenen pochen die Kirchen darauf, dass dabei die Menschenwürde unangetastet bleibt.

Religion als Einspruchsmacht: Polizeidirektor von Justi hätte sich die Augen gerieben.

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SZ vom 12.11.2015
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