Es sind die kleinen Gesten, die das Anderssein verraten. Bevor der Katholik in die Kirchenbank rutscht, beugt er das Knie vor dem Altar. Das ist eine fließende Bewegung, als Kind gelernt und beim halbwegs regelmäßigen Kirchgänger tausendmal geübt, in Fleisch und Blut übergegangen.
Der Nicht-Katholik in der katholischen Kirche aber stutzt. Soll man das Knie überhaupt beugen? Reicht es nicht völlig aus, wenn man, bevor man sich hinsetzt, kurz stehen bleibt und den Kopf hin zum Altar senkt? Oder soll man, allein weil es alle tun, den Kniefall ebenfalls andeuten, nach dem Motto: When in Rome do as the Romans do?
Es gibt die unterschiedlichsten Motive, in die Kirche zu gehen. Die einen machen es, weil sie glauben; die anderen, weil sie es schon immer gemacht haben, und die dritten, weil sie nicht so genau sagen können, ob und was sie glauben, aber ein besseres Gewissen dabei haben, wenn sie gerade wegen ihrer Unsicherheit ab und an den Gottesdienst besuchen.
Eine weitere Kategorie sind diejenigen, die den Kirchgang als eine seltene, aber bei bestimmten Anlässen gebotene Veranstaltung sehen, die als eine Mischung aus besinnlichem Event und Brauchtum verstanden wird. Der Gottesdienst als Service für das irgendwie Unfleischliche wird gerne zu Weihnachten oder Ostern wahrgenommen und natürlich bei Beerdigungen und Hochzeiten.
Es ist seltsam, dass selbst viele Menschen, die keinerlei Beziehung zur Religion haben, sich von einem Pfarrer trauen oder von dieser Welt verabschieden lassen wollen. Es könnte ja sein, dass es da doch irgendetwas gibt...?
Bei mir, um persönlich zu werden, ist es weniger dieses Versicherungsdenken als vielmehr die Tatsache, dass der gerade 13-jährige Sohn, Kind einer überzeugt katholischen Mutter, Ministrant ist. Ich selbst bin in einem tendenziell unreligiösen Haushalt aufgewachsen, aber dennoch als Lutheraner konfirmiert worden. Der Kirche stand ich eher fern, auch wenn sie mich als bedeutende Institution sehr interessiert.
Religiöse Neocons
Ihre Geschichte, ihre zentrale Rolle bei der Entwicklung des Abendlandes und Europas, ihre Kunst und Architektur sind außerordentlich faszinierend. Die Höhle des Apokalyptikers Johannes auf Patmos, der grandiose Dom zu Speyer, die Gottesburg von Mont Saint Michel - dies alles sind Monumente, die auch den Heiden oder den Weiß-nicht-so-genau-Gläubigen in ihren Bann ziehen können. Sie sind ohne die Kenntnis der Religion nicht zu verstehen, aber man muss nicht gläubig sein, um sie zu bewundern.
Diese Art des tiefst empfundenen Interesses gewissermaßen am äußeren Körper der Kirche ist weder verwerflich noch hat sie etwas mit einer bestimmten Spielart des modischen Traditionalismus zu tun, dem sich seit einiger Zeit gerade manche Intellektuelle gerne ergeben.
Selbst auf Berliner Partys ist hin und wieder die Rede davon, dass einen der Ritus zum Glauben zurückführen könnte. Besonders gelobt wird in diesen Kreisen die katholische Kirche, die mit der immer wieder mal gelesenen lateinischen Messe, mit Weihrauchfass und liturgischen Gesängen offenbar die Innerlichkeitsgelüste einer tendenziell gelangweilten Schwafelkaste erfüllen kann. Diese religiösen Neocons sind zwar nicht zahlreich, aber dennoch vernehmbar.
In der Dorfkirche, in der mein Sohn ministriert, gibt es solche Feuilletonchristen nicht. Sie spiegelt vielmehr ganz gut die Probleme des Katholizismus selbst in einer Region wider, die vor nicht gar zu langer Zeit einmal solide katholisch war. An normalen Sonntagen ist die Kirche zu höchstens einem Drittel gefüllt, und oft sind es noch weniger Leute.
Der Altersdurchschnitt ist hoch; Kinder kommen fast nur dann, wenn sie im Kommunion- oder Firmunterricht sind. Und selbst die machen sich rar, weil ihre Eltern Kommunion und Firmung eben oft nur als ein zu absolvierendes Familienfest verstehen. Das ist keine Anklage, nicht einmal eine Klage, sondern nur eine Feststellung. Das junge Gesicht der Kirche, der katholischen zumal, das man auf einem Kirchentag sieht, sieht man am Sonntag zu Hause im Gottesdienst nicht.
Witzig und gütig. Ein seltener Fall.
Leider sieht man das junge Gesicht der Kirche auch nicht auf der Kanzel. Bis vor einiger Zeit gab es in unserer Kirche - ja, obwohl ich Protestant und Opportunitätskirchgänger bin, sage ich "unsere" Kirche - einen engagierten, jüngeren Pfarrer polnischer Herkunft. Er organisierte vieles, darunter auch das Gemeindeleben. Ohne ihn wäre mein Sohn vielleicht nicht Ministrant geworden, in jedem Fall aber wäre er es nicht geblieben. Dieser Pfarrer ist ein weltzugewandter Mann, kritisch mit seiner Kirche und dennoch hoch loyal, witzig und gütig. Ein seltener Fall.
Dann wurde er versetzt, weil es zu wenig Priester gibt und Pfarreien zusammengelegt werden und weil die Gemeinde, die er nun führt, wichtiger und größer ist. Bei uns gibt es nun einen Ruhestandspfarrer, einen Anhänger des Regensburger Bischofs Gerhard Ludwig Müller, der gegen die Verteufelung der Kirche durch die Medien wettert und Unterschriftenlisten auflegen lässt, die zwar nicht direkt zur Solidarität mit Bischof Mixa aufrufen, aber indirekt doch sehr deutlich. Außerdem ist der Pfarrer der Auffassung, er habe sich den Ruhestand verdient, was sicher richtig ist. Er liest hin und wieder die Messe und lässt ansonsten den Herrgott einen guten Mann und die Gemeinde gute Leute sein.
Seit dem Pfarrer-Wechsel ist der Kirchbesuch noch einmal geringer geworden. Ein wackerer Diakon, auch er ein älterer Herr, versucht das Seine zu tun. Wenn der frühere Pfarrer, der Pole, mal wieder die Predigt hält, kommen mehr Menschen. Aber das findet nicht oft statt. Wahrscheinlich kann niemand etwas gegen diese Erosion tun - nicht der Pfarrgemeinderat, nicht der zuständige Pfarrer, und schon gar nicht die Diözese.
Im Dorf, längst Stadtteil einer Kreisstadt, ist äußerlich vieles noch so wie früher: Bei der Maibaum-Aufstellung gibt es einen kurzen Gottesdienst, beim Schützenfest marschiert man zur Kirche, und beim Patroziniumsfest werden die Autos geweiht. Vielleicht haben ja wenigstens die, die immer in die Kirche kommen, das Gefühl, es würde sich eigentlich kaum etwas ändern.
Ist es Heuchelei, gar lästerlich?
Mein Sohn ministriert mit großem Ernst und Pflichtgefühl. Es kümmert ihn an manchen Sonntagen, ob er nicht vielleicht in die Kirche gehen sollte für den Fall, dass es nicht genug Ministranten gibt. Dieses Jahr hat er Firmung, und ich wünsche ihm und unserer Dorfkirche, dass es vielleicht noch länger anhält bei ihm.
Wenn ich manchmal mitgehe, entstehen jedes Mal diese Kleinentscheidungssituationen neu: Vaterunser, Lieder, Glaubensbekenntnis. Zum Beispiel: Spreche ich das Glaubensbekenntnis mit und höre erst bei dem Satz "... die heilige katholische Kirche, Gemeinschaft der Heiligen" auf oder bleibe ich gleich stumm? Wie viel Glauben muss man haben, um dieses Bekenntnis zu sprechen? Ist es Heuchelei, gar lästerlich, aus Gewohnheit oder einfach nur weil man es kennt, mitzusprechen? Oder geniert man sich gar vor sich selbst, weil es eben vielleicht doch nicht nur die Erinnerung, sondern etwas anderes ist?
Die ganz private Ökumene
Vieles ist in der Erinnerung aus den lang zurückliegenden Tagen der Konfirmation noch präsent, manches aus dem Religionsunterricht. Erstaunlich, wie viele Kirchenlieder man damals gelernt hat und erstaunlich, wie viel von dem vor 40 Jahren Gelernten dann an so einem katholischen Sonntag zurückkommen kann.
Beim Abendmahl zumindest bin ich in meiner ganz privaten Ökumene immer konsequent geblieben. Wenn die denn glauben, sie verteilten den wahren Leib Christi, dann sollen sie das tun. Ich glaube es nicht, und ich bleibe in der Kirchenbank sitzen. Mein Sohn klingelt präzise bei der Transsubstantiation, die für mich einer der stärksten Reste magischen Glaubens in der katholischen Kirche ist. (Magisch nicht etwa im Sinne von zauberhaft anziehend, sondern von Zauberglauben.)
Das katholische Abendmahl-Ritual lässt den, der eben nicht mit dieser Kirche aufgewachsen ist, immer noch befremdet zurück - nicht zuletzt deswegen, weil gerade der Streit über den wahren oder den symbolischen Charakter der Eucharistie bis heute jene Klüfte zwischen den Kirchen spreizt und offen hält.
Ach ja, die offizielle Lehrmeinung der katholischen Kirche verwarf ohnehin lange Zeit die "Mischehe" zwischen Katholiken und Lutheraner. Mein Sohn wurde katholisch getauft, was ich keineswegs als Manko empfand. Es war mir egal, wenn ich ehrlich bin. Vielleicht erfordert funktionierende Ökumene eine Form von Gelassenheit, die eigentlich nur Gelegenheitskirchbesucher aufbringen können.