Kindergrundsicherung:"Natürlich wird Armut in Deutschland vererbt"

Kindergrundsicherung: Gebrauchte Kleidung und Jobs neben der Schule: Die Grünen-Politikerin Sarah-Lee Heinrich und der FDP-Abgeordnete Heinrich Jens Teutrine erlebten eine Kindheit in Armut.

Gebrauchte Kleidung und Jobs neben der Schule: Die Grünen-Politikerin Sarah-Lee Heinrich und der FDP-Abgeordnete Heinrich Jens Teutrine erlebten eine Kindheit in Armut.

(Foto: Elias Keilhauer/David Renz)

Sarah-Lee Heinrich, Chefin der Grünen Jugend, und der FDP-Abgeordnete Jens Teutrine wuchsen in ärmlichen Verhältnissen auf - so wie fast drei Millionen junge Menschen in Deutschland. Was hat das mit ihnen gemacht? Welche Schlüsse ziehen sie daraus als Politiker?

Von Markus Balser und Roland Preuß, Berlin

Wann ihr klar wurde, wie knapp die Kasse zu Hause war? Sarah-Lee Heinrich erinnert sich genau an die ersten Tage auf dem Gymnasium in Unna. An die Einblicke in eine fremde Welt. "Die anderen erzählten von Klavierstunden, von Urlauben in den Bergen im Schnee". Sie hatten teure Buntstifte. Und sie machten sich lustig über Klamotten vom Wühltisch im KiK-Discounter, den Heinrich nur zu gut kannte. Sie habe gehofft, sagt Heinrich, "dass niemand ihre Etiketten sieht".

Die 22-Jährige ist heute Bundessprecherin der Grünen Jugend. Bei Auftritten spricht da eine fröhliche junge Frau mit braunen Locken und lautem Lachen. Bei den Gedanken an ihre Kindheit aber wird Heinrich ernst. Ihre Mutter war alleinerziehend und nach harten Jobs wegen einer Krankheit in Hartz IV gerutscht. "Wenn man nicht weiß, was passiert, wenn die Waschmaschine kaputtgeht, ob man sich einen neuen Winterpulli leisten kann, dann macht das etwas mit Kindern." Armut bedeute Unsicherheit und Verzicht. "Und dass die Gesellschaft auf einen herabschaut. Das schmerzt, denn es grenzt aus."

Die Scham war groß. "Ich habe später im Internet versucht, die günstigsten Dinge zu recherchieren, damit der Mangel nicht sichtbar wird. Ich habe versucht, vor den anderen geheim zu halten, dass wir arm sind. Ich wollte als Kind über etwas Kontrolle bekommen, was kein Kind kontrollieren kann. Wir hatten einfach zu wenig", sagt Heinrich heute. Manchmal reichte es nicht mal für das Essen. Ihre Mutter habe auf das Nötigste verzichtet, um ihr mehr zu ermöglichen. Die Politikerin erinnert sich auch an einzelne Besuche bei der Tafel. Sie fordert: "Kein Kind sollte sich dafür anstrengen müssen, nicht in Armut zu leben."

Mindestens zwölf Milliarden mehr fordert die grüne Ministerin, der FDP ist das zu viel

Deutschland gilt als reich. Dennoch ist jedes fünfte Kind armutsgefährdet - fast drei Millionen Jungen und Mädchen unter 18. Eine Reform, die Familienministerin Lisa Paus (Grüne) vorantreibt, soll das ändern. Sie will mit der Kindergrundsicherung staatliche Hilfen wie das Kindergeld, Sozialleistungen und Beiträge zu Sport- und Kulturangeboten für Familien mit geringem Einkommen zusammenfassen.

Und sie will die Hilfen aufstocken. Mindestens zwölf Milliarden Euro zusätzlich fordert die Ministerin - pro Jahr - und hat damit einen Koalitionsstreit ausgelöst. Denn der FDP ist das zu viel. Die Ampel habe die zentralen Leistungen schon aufgestockt, sieben Milliarden zusätzlich für höheres Kindergeld, einen höheren Kinderzuschlag für ärmere Familien, den Satz für Kinder im Bürgergeld und weitere Hilfen, damit sei das Wesentliche schon geleistet, sagt Finanzminister Christian Lindner. Der FDP-Chef will die Hilfen bündeln und leichter zugänglich machen. Nicht alles, was wünschenswert sei, sei auch machbar, sagt er.

Wünschenswert? Heinrich macht es fassungslos, dass eine Partei Wohlhabende weiter entlasten, die Ärmsten aber nicht noch stärker unterstützen will. "Man muss es so klar sagen: gegen Armut hilft vor allem eins - Geld", ist Heinrich überzeugt. Als Kind hatte sie mit 15 einen Job in der Hausaufgabenbetreuung übernommen. "Das war der Puffer, um mir mal einen Pulli, das Taschengeld für die Jugendfreizeit oder auch ein Geschenk für die Geburtstagsfeier von Freunden leisten zu können." Das alles war im Regelsatz nicht drin.

Drei Jahre Förderschule - "das war super"

Auch Jens Teutrine weiß, wie es ist, nicht genug Geld zu haben. Er wuchs bei seiner alleinerziehenden Mutter auf, sie ging Putzen, um ihre beiden Kinder zu versorgen. Heute ist Teutrine Sozialpolitiker der FDP im Bundestag. Und widerspricht so dem Klischee von der Partei als Hort der Zahnärzte und Immobilienmakler, die sich für soziale Fragen höchstens interessieren, wenn jemand seine Rechnung nicht zahlt.

Als Kind hatte der 29-Jährige Probleme mit der Aussprache und eine Lese-Schreib-Schwäche. "Meine Mutter hätte allein nicht gewusst, was sie tun soll. Sie wusste nicht, dass es eine passende Förderschule gibt." Erst eine Logopädin gab ihr den entscheidenden Hinweis. Teutrine ging drei Jahre auf eine Förderschule "Das war super", sagt er in seinem Bundestagsbüro - und breitet die Hände aus. Von den Problemen mit der Aussprache ist nichts mehr zu hören. Jens Teutrine wurde Bundesvorsitzender der Jungen Liberalen, seit 2021 sitzt und redet er im Bundestag.

Teutrine teilte sich einst mit seiner Schwester ein Zimmer, während die Mutter im Wohnzimmer schlief. Das war in der ostwestfälischen Kleinstadt Rheda-Wiedenbrück, in einem bürgerlichen Umfeld. "Was meine Mutter arbeitet, habe ich anderen lieber nicht erzählt." Seine Mutter aber habe ihm viel ermöglicht, habe auf viel verzichtet, um "sozio-kulturelles Kapital gekümmert", wie es der studierte Sozialwissenschaftler ausdrückt. "Ich hatte eine schöne Kindheit. Judo und Gitarrenunterricht, Urlaub an der Nordsee." Gleichaltrige freilich erzählten von Flugreisen nach Mallorca.

Als Nachtwache in der Demenzbetreuung oder im Baumarkt

Teutrine trug gebrauchte Kleidung, vom ersten selbstverdienten Geld von der Bäckerei kaufte er sich neue Markensneaker. Danach hat er bei vielen Stellen gejobbt, um sich auch etwas leisten zu können. Als Nachtwache in der Demenzbetreuung oder im Baumarkt. Als erster in seiner Familie machte er Abitur, als erster studierte er.

Seine persönlichen Erfahrungen seien nicht der Maßstab dafür, wie er Politik machen wolle, sagt Teutrine. Und doch passt beides zusammen. "Ich glaube, ich hatte auch Glück. Ich bin nicht der Onkel, der uneingeschränkt erzählt: Jeder kann es schaffen in diesem Land." Kinder aus armen Familien haben ganz andere Herausforderungen, das ist auch für ihn keine Frage. Die Frage für Teutrine ist: Wie ändert man das?

Nur einfach mehr Geld sei nicht immer die beste Maßnahme, sondern Bildung und Möglichkeiten der Teilhabe. So sieht es Teutrine. Damit ist man schon mittendrin im Streit von FDP und Grünen, wie die Kindergrundsicherung aussehen muss. Soll man den ärmeren Familien selbst deutlich mehr Geld geben, damit sie sich mehr leisten können? Einen Kindergeburtstag, Sport- und Kulturveranstaltungen? Darauf beharren die Grünen. Oder muss das bisherige Hilfsniveau im Wesentlichen reichen, wie die FDP fordert? Bei einem gleichzeitig leichteren Zugang zu staatlicher Unterstützung, zu Mitgliedschaften in Sportvereinen, zu Bildung und Kultur. Das fördert der Staat bereits, doch zu oft sind die Anträge kompliziert, wird die Hilfe nicht in Anspruch genommen. Selbst Geldleistungen wie der Kinderzuschlag für ärmere Familien werden von den meisten Berechtigten nicht abgerufen. Das will auch die FDP ändern. "Dieses komplizierte Hilfssystem entmündigt, demütigt und bremst Betroffene", sagt Teutrine.

Wenig hilfreich findet man es bei den Grünen, dass die FDP die Milliarden des Bundeshaushalts lieber anders verplant. Es stimme schon, dass Menschen in Armut oft Probleme hätten, die Bürokratie zu bewältigen. Heinrich aber zieht andere Schlüsse. Es brauche automatische Auszahlungen an die Berechtigten. Gerade die Ärmsten kämen mit den Preissteigerungen etwa bei Lebensmitteln nicht klar. "Was soll man machen? Licht auslassen?", fragt Heinrich. Sie glaubt, dass vielleicht sogar mehr Geld gebraucht wird: "Ob die zwölf Milliarden reichen werden, daran habe ich Zweifel."

Den Absprung zu schaffen, das ist immer noch schwer

Die Logopädin, die ihm so half, hatte der Staat finanziert, sagt Teutrine. Ebenso die Lehrer, die seinen Bildungsaufstieg beförderten. Für den Judo- und Gitarrenunterricht zahlte die Familie verringerte Beiträge. Auch für die komplizierte Sozialbürokratie könnte Teutrine ein Beispiel sein. "Ich glaube, wir wären wohngeldberechtigt gewesen", sagt Teutrine. Genau weiß er das bis heute nicht.

Was ihr aus der Armut geholfen hat? "Eine liebevolle Mutter, Glück und gute Noten", sagt Heinrich. Den Absprung zu schaffen, das ist noch immer schwer. Der Start ins Studium und der Auszug waren nur mit Hilfe einer Patentante möglich. Weil sie die Kaution für die Wohnung stellte, konnte Heinrich zum Studieren in eine andere Stadt. "Natürlich wird Armut in Deutschland vererbt", sagt Heinrich. Kinder aus armen Verhältnissen würden häufiger krank - auch psychisch. Das zu ändern sei "nicht wünschenswert", sagt Heinrich. "Das ist notwendig."

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