Kindesmissbrauch:Pädophile Cyber-Attacken

Sexuelle Gewalt gegen Minderjährige im Internet soll laut Experten mit schärferem Strafrecht bekämpft werden.

Von Christoph Dorner, Berlin

Alex Stern braucht nur ein paar Worte zu sprechen am Dienstag, da wird es still, und durch den Raum schleicht die Ahnung, was es bedeutet: wenn Bilder schwerer Straftaten im Netz auf die Reise gehen, für immer. Alex Stern ist Student, ein schmaler junger Mann, am Dienstag sitzt er in den Räumen der Kultusministerkonferenz in Berlin. Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung stellt hier mit Psychologen und Betroffenen eine Expertise vor. Es geht um "sexualisierte Grenzverletzungen und Gewalt mittels digitaler Medien" - also um das, was sich in Smartphones und Laptops junger Menschen abspielen kann, wenn Staat und Eltern nicht so genau hinsehen.

Die Experten werden bei der Vorstellung der Untersuchung vor einer "Katastrophe" warnen, über "Grooming" und "Sexting" sprechen und über die vielen Wege, auf denen Kinder und Jugendliche im Internet an pornografische Abbildungen herangeführt werden können. Nicht wenige werden auch selbst zum Bild, stellen zum Spaß Nacktaufnahmen von sich ins Netz, oder weil ein Netz-Bekannter sie dazu ermuntert, bevor er oder sie die Bilder weiterverbreitet. Aus virtuellen Begegnungen aber werden immer wieder solche in der echten Welt, der von Sexualstraftätern.

Alex Stern, Student für Erziehungswissenschaften, ist keiner, dem reißerische Töne liegen. Er sagt nur leise: "Sie wissen nie, wer diese Aufnahmen gesehen hat. Vielleicht werden sie erkannt, vielleicht nicht." Gemeint sind da Kinder oder Teenager, von denen pornografische Aufnahmen gemacht und in Pädophilennetzen verkauft wurden. Selbst wenn das Opfer längst erwachsen ist, kann die Re-Viktimisierung weitergehen. Ein Leben lang müssen sie befürchten, erkannt zu werden, von Vorgesetzten, Kollegen, Freunden. Weshalb sie soziale Netzwerke oft meiden und isoliert sind, sagt Stern. Er sitzt im Betroffenenrat des Missbrauchsbeauftragten.

Nun gehört Stern nicht zu denen, die das Internet dämonisieren. Aber wie die anderen Experten, die mitgewirkt haben an der Untersuchung des Missbrauchsbeauftragten über digitale Anbahnung sexueller Grenzverletzungen und Gewalt, fordert Stern mehr Geld und staatliches Engagement, um Selbsthilfegruppen zu unterstützen und ans Licht zu befördern, was jungen Leuten im Netz passieren kann.

"Alle Welt spricht im Moment von Cyber-Kriminalität, von Hass- und Fake-News", sagt der Missbrauchsbeauftragte Johannes-Wilhelm Rörig. Die Politik wolle die Anbieter von Internetdiensten stärker in die Pflicht nehmen, predige auch die Notwendigkeit des digitalen Wandels, gerade in Schulen. Es fehle aber eine Diskussion über eine ganz zentrale Frage: Wie Minderjährige vor ungewollter Konfrontation mit Pornografie geschützt werden können. Denn anders als früher, als für einen sexuellen Übergriff die physische Präsenz Voraussetzung war, wüssten Täter das Internet heute "skrupellos und strategisch" zu nutzen. Wer diese Entwicklung analysieren und bekämpfen wolle, sei gut beraten, das Netz weder als Risikozone zu verteufeln, noch seine Gefahren zu bagatellisieren, sagte Arne Dekker, Professor für Sexualwissenschaft und präventive Internetforschung an der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf. Ziel müsse es vielmehr sein, jungen Leuten einen sicheren Umgang mit digitalen Medien zu ermöglichen.

Dazu gehöre beispielsweise die Fähigkeit, sogenanntes Grooming zu erkennen. Gemeint ist der Versuch eines erwachsenen Täters, Kinder und Jugendliche gezielt mit Pornografie zu beschicken, um so sexuelle Kontakte aufzubauen. "Grooming dient der gezielten Vorbereitung von Straftaten", sagt Dekker. Täter gingen oft mit hoher Professionalität vor, um Kinder und ihr Umfeld zu manipulieren. Dabei stelle die Sexualisierung der Sprache oft nur einen ersten Schritt dar, um sie zu sogenannten Offline-Treffen zu motivieren, Treffen im echten Leben. Der Missbrauchsbeauftragte Rörig plädierte für eine sogenannte Versuchsstrafbarkeit für Cyber-Grooming. Schon das gezielte Ansprechen von Minderjährigen im Internet mit dem Ziel, sexuelle Kontakte anzubahnen, müsse unter Strafe gestellt werden.

Wer nun fragt, wie es Sexualstraftätern gelingt, ein Kind oder einen Jugendlichen dazu zu überreden, einen wildfremden Menschen auch in der Wirklichkeit zu treffen, dem antwortet die Psychologin Julia von Weiler: "Wenn ich es gut gemacht habe, dann bin ich nicht mehr fremd." Sexualstraftäter zeigten oft enormes psychologisches Geschick und Gespür für Schwächen und Bedürfnisse eines Kindes. Gleichzeitig erlebten viele junge Menschen die Schwelle zwischen digitaler und realer Welt nicht mehr als harte Grenze, sondern als Zone eines fließenden Übergangs. "Soziale Beziehungen werden digital gelebt", sagt die Psychologin, die im Vorstand des Vereins "Innocence in Danger" sitzt. Die Distanz zwischen einem fremden Erwachsenen und einem Kind werde verwischt. "Die Täter befinden sich im Kinderzimmer."

Wie oft so etwas vorkommt, ist wissenschaftlich nicht erforscht. Die Organisation "Innocence in Danger" geht von rund 728 000 Erwachsenen in Deutschland aus, die sexuelle Onlinekontakte zu Kindern haben. Der Verein beruft sich auf Ergebnisse der Regensburger Mikado-Studie, deren Datenbasis allerdings umstritten ist. Holger Knapp von der Zentralstelle für Kinderpornografie des Bundeskriminalamts verweist am Dienstag darauf, dass 2015 in 12 000 Fällen Ermittlungen wegen sexuellen Missbrauchs aufgenommen wurden in Deutschland. 6500 Mal wurde wegen Besitzes und Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen ermittelt. Dies entspreche aber nicht der Zahl der Verurteilungen.

Und noch ein weiteres schlecht beleuchtetes Feld wird da betreten: die sogenannte Peer-to-Peer-Gewalt, also die sexuelle Verletzung unter Gleichaltrigen. Oft beginnt sie mit "Sexting", also mit dem arglosem Herumschicken von intimen Bildern. Werden sie weitergegeben etwa nach einer Trennung, könne es "zur Tragödie kommen", sagt Psychologin Weiler.

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