Kinderrechte:Mit Herz und Grundgesetz

Kinderrechte: Kinder spielen auf dem Dach eines Hauses in der pakistanischen Stadt Lahore

Kinder spielen auf dem Dach eines Hauses in der pakistanischen Stadt Lahore

(Foto: AFP)

Vor 25 Jahren wurde die Kinderrechtskonvention von der UN-Vollversammlung verabschiedet. Nun müssen ihre Ideen endlich auch im Grundgesetz verankert werden. Denn die deutsche Verfassung schützt Tiere und Umwelt - nicht aber die Kinder.

Von Heribert Prantl

Am Anfang sind alle Kind. Jeder hat diese Erfahrung gemacht. Das Kindsein gehört zu den universellsten und allgemeinsten Erfahrungen, die es gibt. Alle Kinder werden, mit Glück, Erwachsene. Und die meisten Kinder werden Eltern. So einfach ist das - und doch tun sich so viele Rätsel auf, wenn man über Kindheit nachdenkt.

Kindergeschichten können sehr lustige Geschichten sein, wie die Lausbubengeschichten von Ludwig Thoma; Kindergeschichten können sehr dunkle Zerstörungsgeschichten sein. Die guten und bösen individuellen Geschichten, die von Kindern handeln, sind eingebettet in die große generelle Geschichte der Kindheit: Es gibt eine Kindheitsgeschichte, also die Geschichte der Kindheit im Lauf der Jahrhunderte, so wie es auch eine Herrschergeschichte, eine Kriegsgeschichte, eine Religionsgeschichte oder Rechtsgeschichte gibt. Die Kindheitsgeschichte handelt davon, welche Rolle Kinder jeweils in der Gesellschaft ihrer Zeit hatten und wie sich die Bedeutung der Kindheit im Lauf der Jahrhunderte verändert hat. Diese Historie zerfällt in zwei große Teile - in eine Geschichte vor und nach Jean-Jacques Rousseau.

Im Mittelalter gab es keine Kindheit

Vor Rousseau: Kindheit hatte keinen Eigenwert. Kinder galten als dumm und als unfertige Wesen, die möglichst rasch erwachsen werden sollten - sie waren Objekte, sehr lange Zeit schlicht Nutzobjekte. Im Mittelalter maßen die Menschen dem ersten Lebensabschnitt kaum Bedeutung bei. Sobald die Kinder kräftig genug waren, halfen sie den Eltern bei der Viehzucht, bestellten die Felder oder arbeiteten in Werkstätten. Eine Abgrenzung zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt gab es nicht. Mit sieben Jahren wurden sie als kleine Erwachsene behandelt und miteinander verlobt. Der Wert eines Kindes definierte sich über dessen Nutzen für die Eltern.

Für die Religion und für die Staaten war es ähnlich: Der Wert des Kindes bemaß sich nach dem jeweiligen Nutzen. Die Hauptsorge der Religion galt der Seele, die Hauptsorge des Staates galt der Bereitstellung künftiger Arbeitskräfte und künftiger Soldaten. Der Rohstoff Kind, so pointiert es der US-Sozialwissenschaftler Lloyd deMause in seiner psychohistorischen Geschichte der Kindheit, wurde vernutzt, wie heute die Natur vernutzt wird.

Rousseau stellt erstmals klar: Kinder haben Rechte

Vor gut 250 Jahren beginnt mit Rousseau und seinem Opus magnum, dem Erziehungsroman "Émile", die große gesellschaftliche Neuorientierung, die Entdeckung der Kindheit, jedenfalls ihre Entdeckung in der Literatur: Die Kindheit hat jetzt ihren eigenen Wert, sie ist für sich wertvoll. In "Émile" ist erstmals aufgeschrieben, dass Kindheit eine schützenswerte Lebensphase ist. Der Junge Émile lernt nicht durch Belehrung oder Strafe, sondern durch Spielen, Toben und Faulenzen. "Stets suchen die Erwachsenen den Erwachsenen im Kind", klagt Émile, und nie dächten sie daran, was der Mensch vorher ist: ein Kind; ein Mensch also, der eine ganz eigene Art habe zu sehen, zu denken und zu empfinden. Erstmals wird in diesem Buch Erziehung aus der Sicht des Kindes betrachtet - und für das Wohl des Kindes geworben. Erstmals wird klar: Kinder haben Rechte, eigene Rechte, Rechte also, die nicht aus den Rechten der Eltern abgeleitet sind.

Es dauert sehr lange, bis sich so eine fundamentale Erkenntnis durchsetzt, bis sie ihren Weg findet in die Konventionen, Verfassungen und Gesetzbücher. Vor 25 Jahren, am 20. November 1989, wurde das "Übereinkommen über die Rechte des Kindes", die Kinderrechtskonvention also, von der Vollversammlung der Vereinten Nationen angenommen. Im ihrem Mittelpunkt steht der Artikel 3: Er verlangt, dass bei allen Entscheidungen, die Kinder betreffen, das Kindeswohl vorrangig zu beachten ist, vor allen anderen Gesichtspunkten, an alleroberster Stelle. Das geht über die Abwägungskriterien hinaus, die in den deutschen Paragrafen des elterlichen Sorge- und Umgangsrechts formuliert sind.

Das Grundgesetz schützt die Tiere und die Umwelt - warum nicht die Kinder?

Warum ist diese Kinderrechtskonvention in Deutschland noch nicht stärker im juristischen und im politischen Bewusstsein verankert, warum ist der absolute Vorrang des Kindeswohls gesetzgeberisch nicht präsent? Warum muss nicht jedes neue Gesetz, warum muss nicht jedes Recht auf seine Auswirkungen auf Kinder befragt werden - warum gibt es kein "Kinder-Mainstreaming"? Vielleicht deshalb: Im Grundgesetz kommen Kinder nicht vor, jedenfalls nicht als Inhaber von Rechten. Das Grundgesetz kennt keine Kinder, bis heute nicht. Das ist schade, das ist bedauerlich, das ist merkwürdig; das Grundgesetz schützt zwar mittlerweile auch die Tiere und die Umwelt, aber die Kinder nicht. Alle Anläufe, daran etwas zu ändern, alle Initiativen, ein Kindergrundrecht ins Grundgesetz zu schreiben, sind bisher gescheitert.

Zwar hat das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1968 in einer Fundamentalentscheidung klargestellt, dass Kinder Wesen mit eigener Menschenwürde und eigenem Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit sind; daraus entspringt, so sagt Karlsruhe, die Verpflichtung des Staats, den Kindern Schutz vor Missbrauch elterlicher Rechte und vor Vernachlässigung durch ihre Eltern zu gewähren. Das höchste deutsche Gericht hat diese Entscheidung 2008 noch einmal bekräftigt. Es hat "ein Recht des Kindes auf Pflege und Erziehung" anerkannt und dieses ungeschriebene Grundrecht für Kinder dem Elterngrundrecht nach Artikel 6 des Grundgesetzes gleichgestellt. Das Gericht hat dabei den Bedürfnissen der Kinder den Vorrang vor den Interessen der Eltern eingeräumt. Aber der Gesetzgeber hat sich bisher geweigert, das auch so ins Grundgesetz zu schreiben.

Die Angst vor "Vater Staat" als Obererzieher

Seit Jahrzehnten klopfen nun die Kinder vergeblich an die Tür des Grundgesetzes. In dieser Zeit ist so viel Unsinn ins Grundgesetz geschrieben worden, dass Sinnvolles wie ein Kindergrundrecht einen wieder ein wenig positiver gestimmt hätte - angesichts der Verunstaltungen, die etwa Artikel 13 (Unverletzlichkeit der Wohnung) und Artikel 16 (Grundrecht auf Asyl) erfahren haben. Initiativen, die die Grundrechte schwächen, haben es offenbar sehr viel leichter als Initiativen, welche die Grundrechte mehren und stärken wollen.

Warum tut sich der Gesetzgeber so schwer? "Gewalt kommt in den besten Familien vor", besagt eine Redensart. Vielleicht ist es diese Erkenntnis, die manche Politiker davor zurückschrecken lässt, ein "Kinderrecht" ins Grundgesetz zu schreiben. Weil Gewalt in den besten Familien vorkommt, könnte es ja sein, so lautet die stille Befürchtung, dass auf einmal der Staat in Gestalt des Jugendamtes oder gar der Polizei vor der Tür steht, wenn einem einmal, wie man so sagt, "die Hand ausrutscht". So hässlich solche Erziehungsversagen sind, so verständlich ist eine gewisse Angst vor einem "Vater Staat" als Obererzieher.

Wie ein Kindergrundrecht zu formulieren ist

Wie sähe ein Kindergrundrecht im Grundgesetz aus? In drei Sätzen so - erster Satz, als Leitsatz: "Der Staat schützt die Kinder." Zweiter Satz: "Jedes Kind hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft." Dritter Satz: "Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist." Satz zwei entspricht dem Satz, der im Grundgesetz zum Schutz der Mütter formuliert ist. Satz drei ist identisch mit der Formulierung der Kinderrechtskonvention; er hebt diese in Verfassungsrang.

Die Rechte der Eltern (die Juristen nennen diese Rechte noch immer altertümlich und missverständlich "elterliche Gewalt") finden ihre Rechtfertigung darin, dass Kinder des Schutzes und der Hilfe bedürfen. Aber was ist, wenn Hilfe und Schutz nicht gewährt werden, wenn Kinder also schutzlos sind? Dann hilft dem Kind natürlich auf die Schnelle auch ein Kindergrundrecht "auf Entfaltung" nichts.

Ein Grundrecht nimmt den Staat in die Pflicht

Auch als Sofortprogramm gegen Gewalt ist so ein Kindergrundrecht untauglich. Ein Kindergrundrecht ist kein Schutzschild, aber: Es ist ein Fundament, auf dem gute Kinderpolitik gedeihen kann. Ein solches Grundrecht nimmt den Staat anders in die Pflicht als bisher, zum Beispiel bei der Unterstützung überforderter Eltern. Das Kindergrundrecht ist eine notwendige Selbstverpflichtung der Gesellschaft.

Der deutsche Gesetzgeber aber ziert sich so, wie er sich bei der UN-Kinderrechtskonvention geziert hat: Deutschland hat diese Konvention aus dem Jahr 1989 zwar schon 1990 unterzeichnet, sich aber dann mit der Ratifizierung erst einmal bis 1992 Zeit gelassen - und dann zugleich einen großen "Vorbehalt" erklärt, der alle heiklen Punkte aussparte: Zumal im Asyl- und im Ausländerrecht wollte man die Kinderrechtskonvention nicht gelten lassen. Den unbegleiteten Flüchtlingskindern sollten keine Rechte daraus erwachsen. Und so erklärte die Bundesrepublik 1990 schandvollerweise, dass die Kinderrechtskonvention in Deutschland keine unmittelbare Anwendung finden solle. Erst 2010 wurde diese Vorbehaltserklärung aufgehoben, seitdem gilt die Kinderrechtskonvention in Deutschland im Rang eines einfachen Gesetzes. Aber im Asylrecht hat das noch keinerlei Folgen gehabt. Es gibt keine speziellen Asylrechte für Kinder.

Rousseau scheiterte an der Umsetzung seiner Theorie

Die Kinderrechtskonvention ist zwar Gesetz, fristet aber ein Schattendasein in Deutschland. Das Kindergrundrecht im Grundgesetz würde sie aus diesem Schattendasein holen. Mit dem Kindergrundrecht kämen die großen Pädagogen, kämen Maria Montessori, Johann Heinrich Pestalozzi und Janusz Korczak ins Grundgesetz. Sie haben auf Rousseau aufgebaut.

Wie schwer es aber ist, eine schöne und richtige Theorie in eine schöne Praxis zu übersetzen, hat Rousseau selber gezeigt: Seinen eigenen fünf Kinder war er kein guter Vater, sie sind nicht in den Genuss einer behüteten, glücklichen Kindheit gekommen. Kurz nach ihrer Geburt gab Rousseau sie jeweils ins Findelhaus, nannte als Grund dafür seine Armut. Er könne nicht arbeiten, wenn er seine Kinder nicht versorgt wisse. Vielleicht ist der große Rousseau also nicht nur wegen seines großen Erziehungsromans "Émile" der Ahnvater der modernen Erziehung, sondern auch wegen seines großen persönlichen Scheiterns. Er selbst zeigt, in seinem eigenen Leben: Es ist immer vor und nach Rousseau.

Es gab schon immer viel Heuchelei in der Kindererziehung

Rousseaus Scheitern bestand in der tiefen Kluft zwischen seiner Theorie und einer Praxis, die er selbst, in seinem Leben, nicht einmal versucht hat. Viele Eltern heute, lang nach Rousseau, erleben immer und immer wieder ein kleineres oder größeres Scheitern in der eigenen erzieherischen Praxis: Sie erleben das Scheitern an den eigenen Ansprüchen, das Scheitern an den eigenen Vorstellungen und Idealen, ihre eigene Unzulänglichkeit und Unsicherheit. Und sie erleben, wie in der Geschichte ihrer eigenen Kinder und ihrer eigenen Erziehungsbemühungen alles wild durcheinandergeht, dass man das Kind nicht nur, wie es ihm gebührt, als Subjekt behandelt - sondern immer wieder als Objekt der eigenen Ansprüche und Zukunftsvorstellungen.

Es gibt viel Heuchelei in der Kindererziehung. Vor hundert Jahren empörte sich die Monatsschrift für die christliche Familie über Eltern, die "sogar den Wiegenkindern Branntwein geben, damit sie schlafen sollen". Und der Moralapostel fragte: "Ist es da zu wundern, wenn Eltern ihre unheilvolle Aussaat schrecklich aufgehen sehen?" Aber er verliert kein Wort über die Not der Eltern, die sich also dann um ihr Kind nicht zu kümmern brauchen und ihrer Arbeit nachgehen können. Kinderbetreuungsangebote gab es damals nicht; es gibt sie leider heute noch immer nicht in ausreichender Zahl. Die Gesellschaft heute ist, ähnlich wie vor hundert Jahren, versucht, die Vernachlässigung von Kindern nur als individuell moralisches Problem zu sehen und die Lebensumstände derer, die man als Rabenmütter bezeichnet, außer Acht zu lassen. Dabei ist es so: Wer schwer belastet ist, dem wird ein Kind lästig. Die Zahl der Kinder, die von Hartz IV oder Sozialhilfe leben, steigt und steigt.

Die Vorurteile über arme Eltern sind unwahr

Die Armut der Eltern ist wie ein Erbgefängnis für die Kinder. Die Debatte um einen Mindestlohn hat daher auch etwas mit Kindern zu tun: Es geht nicht nur darum, unter welchen ökonomischen, sondern auch unter welchen emotionalen Vorzeichen Kinder aufwachsen; Zufriedenheit der Eltern färbt auf die Kinder ab. Der Bochumer Sozialwissenschaftler Klaus-Peter Strohmeier sagt, dass eine verbreitete Meinung über Hartz-IV-Eltern nicht der Wahrheit entspricht: Arme Eltern setzen ihr Geld nicht am allerliebsten in Zigaretten und in eine große Glotze um; das macht nur eine Minderheit so. Oberste Priorität hat bei den meisten armen Eltern, dass die Bedürfnisse ihrer Kinder befriedigt werden.

In jeder Generation, in jeder Familie gibt es Zeiten vor und nach Rousseau. Zu jeder Zeit, in jeder Kindheit, in jeder Erziehung, in jedem Kindergarten, ist es vor und nach Rousseau. Gut ist es, wenn die vorrousseauschen Anteile nicht überhandnehmen. Die besten Eltern enttäuschen ihre Kinder, finden nicht das richtige Wort, haben nicht immer die nötige Ruhe. Die Welt ist kompliziert geworden, für Kinder und Eltern. Deshalb glauben viele Eltern, den Kindern immer mehr beibringen zu müssen. Mehr lernen bedeutet mehr Erfolg, so denken Eltern, und "richtig lernen" sollen die Kinder. Sie dürfen keine Fehler mehr machen.

Der Psychoanalytiker Arno Gruen klagt darüber, dass wir verlernt haben, "aus dem Bauch heraus" mit Kindern umzugehen; er meint aus einem "liebenden Bauch" heraus. Vielleicht kamen die Ansätze der antiautoritären Erziehung zu sehr aus dem Nachdenken über die als falsch empfundenen Erziehungsmethoden der Eltern und zu wenig aus dem Mitfühlen mit Kindern; und vielleicht ist es heute, beim Ruf nach neuer Autorität in so vielen Erziehungsberatungsbüchern, wieder genauso.

Es fehlt wohl oft die antiautoritäre Autorität des Herzens. Die kann man freilich auch mit der Kinderrechtskonvention und mit den Kinderrechten im Grundgesetz nicht herbeizaubern.

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