Am Anfang sind alle Kind. Jeder hat diese Erfahrung gemacht. Das Kindsein gehört zu den universellsten und allgemeinsten Erfahrungen, die es gibt. Alle Kinder werden, mit Glück, Erwachsene. Und die meisten Kinder werden Eltern. So einfach ist das - und doch tun sich so viele Rätsel auf, wenn man über Kindheit nachdenkt.
Kindergeschichten können sehr lustige Geschichten sein, wie die Lausbubengeschichten von Ludwig Thoma; Kindergeschichten können sehr dunkle Zerstörungsgeschichten sein. Die guten und bösen individuellen Geschichten, die von Kindern handeln, sind eingebettet in die große generelle Geschichte der Kindheit: Es gibt eine Kindheitsgeschichte, also die Geschichte der Kindheit im Lauf der Jahrhunderte, so wie es auch eine Herrschergeschichte, eine Kriegsgeschichte, eine Religionsgeschichte oder Rechtsgeschichte gibt. Die Kindheitsgeschichte handelt davon, welche Rolle Kinder jeweils in der Gesellschaft ihrer Zeit hatten und wie sich die Bedeutung der Kindheit im Lauf der Jahrhunderte verändert hat. Diese Historie zerfällt in zwei große Teile - in eine Geschichte vor und nach Jean-Jacques Rousseau.
Im Mittelalter gab es keine Kindheit
Vor Rousseau: Kindheit hatte keinen Eigenwert. Kinder galten als dumm und als unfertige Wesen, die möglichst rasch erwachsen werden sollten - sie waren Objekte, sehr lange Zeit schlicht Nutzobjekte. Im Mittelalter maßen die Menschen dem ersten Lebensabschnitt kaum Bedeutung bei. Sobald die Kinder kräftig genug waren, halfen sie den Eltern bei der Viehzucht, bestellten die Felder oder arbeiteten in Werkstätten. Eine Abgrenzung zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt gab es nicht. Mit sieben Jahren wurden sie als kleine Erwachsene behandelt und miteinander verlobt. Der Wert eines Kindes definierte sich über dessen Nutzen für die Eltern.
Für die Religion und für die Staaten war es ähnlich: Der Wert des Kindes bemaß sich nach dem jeweiligen Nutzen. Die Hauptsorge der Religion galt der Seele, die Hauptsorge des Staates galt der Bereitstellung künftiger Arbeitskräfte und künftiger Soldaten. Der Rohstoff Kind, so pointiert es der US-Sozialwissenschaftler Lloyd deMause in seiner psychohistorischen Geschichte der Kindheit, wurde vernutzt, wie heute die Natur vernutzt wird.
Rousseau stellt erstmals klar: Kinder haben Rechte
Vor gut 250 Jahren beginnt mit Rousseau und seinem Opus magnum, dem Erziehungsroman "Émile", die große gesellschaftliche Neuorientierung, die Entdeckung der Kindheit, jedenfalls ihre Entdeckung in der Literatur: Die Kindheit hat jetzt ihren eigenen Wert, sie ist für sich wertvoll. In "Émile" ist erstmals aufgeschrieben, dass Kindheit eine schützenswerte Lebensphase ist. Der Junge Émile lernt nicht durch Belehrung oder Strafe, sondern durch Spielen, Toben und Faulenzen. "Stets suchen die Erwachsenen den Erwachsenen im Kind", klagt Émile, und nie dächten sie daran, was der Mensch vorher ist: ein Kind; ein Mensch also, der eine ganz eigene Art habe zu sehen, zu denken und zu empfinden. Erstmals wird in diesem Buch Erziehung aus der Sicht des Kindes betrachtet - und für das Wohl des Kindes geworben. Erstmals wird klar: Kinder haben Rechte, eigene Rechte, Rechte also, die nicht aus den Rechten der Eltern abgeleitet sind.
Es dauert sehr lange, bis sich so eine fundamentale Erkenntnis durchsetzt, bis sie ihren Weg findet in die Konventionen, Verfassungen und Gesetzbücher. Vor 25 Jahren, am 20. November 1989, wurde das "Übereinkommen über die Rechte des Kindes", die Kinderrechtskonvention also, von der Vollversammlung der Vereinten Nationen angenommen. Im ihrem Mittelpunkt steht der Artikel 3: Er verlangt, dass bei allen Entscheidungen, die Kinder betreffen, das Kindeswohl vorrangig zu beachten ist, vor allen anderen Gesichtspunkten, an alleroberster Stelle. Das geht über die Abwägungskriterien hinaus, die in den deutschen Paragrafen des elterlichen Sorge- und Umgangsrechts formuliert sind.