Kinderheime: Misshandlungen:Prügel im Haus zum Guten Hirten

Ohrfeigen gaben die Nonnen selber, für die Prügel war der Hausmeister zuständig: In Heimen wurden bis zu 50.000 Kinder und Jugendliche missbraucht und gedemütigt. Heute kämpfen sie um Anerkennung.

Matthias Drobinski, Bramsche/Singen

Jürgen Beverfördens Albtraum beginnt, da ist er sechs. Im Bahnhof Osnabrück steht er; ich komme gleich wieder, hat die Mutter gesagt. Doch sie kommt nicht wieder. Erst kommt die Angst, dann die Verzweiflung, schließlich die Frau vom Jugendamt. Einen strengen Haarknoten hat sie, es ist das Jahr 1950. Bist so hilflos, sagt heute der Junge von damals. "Gehst die Treppe hinauf zur Wohnung, die deine Heimat war. Fremde Leute tragen die letzten Möbel herunter, hastig packst du einen Waschpulverkarton voller Kleider - das ist jetzt alles, was dir gehört."

Vermisstenfälle

Wer aufmuckt, auf den warten Schläge: 50.000 Kinder wurden in deutschen Heimen missbraucht.

(Foto: dpa)

Nach Irland ist die Mutter abgereist. Am Morgen hat sie einen Offizier der britischen Armee geheiratet, sie will nichts mehr wissen vom alten Leben, wo sie einer Industriellen-Familie diente und leichte Beute war für die Wehrmachtsoffiziere und Nazigrößen, die dort verkehrten. Zwei Kinder hat sie bekommen von zwei Männern. Jetzt ist die neue Zeit da, und die Männer von damals haben ihr viel Geld gezahlt: 30.000 Mark, genug, um ein neues Leben anzufangen, ohne die Kinder, die sie nicht lieben kann.

Für Jürgen und die Schwester geht es quer durch Osnabrück zum katholischen Renthe-Fink-Haus. "Lasset die Kindlein zu mir kommen", steht auf dem Sockel der Jesusfigur im Eingang. Die Ohrfeigen geben die Nonnen selber; für die Prügel haben sie den Hausmeister. Einen Jungen, der eine Tomate eingesteckt hat, schlägt er mit einem Gummikabel, wimmernd liegt der Bub auf dem Strohsack, die Striemen bluten. Willkommen im Haus zum Guten Hirten.

700 Kilometer südlich und vier Jahre später endet auch für Helmut Klotzbücher die Jugend. 1954 ist das, 15 Jahre ist er alt, er lebt beim Vater. Das ist dem Jugendamt suspekt. Auf einmal steht ein Auto da, er soll mit. Es geht zum Sankt-Konradihaus in Schelklingen in der Nähe von Ulm. Um sechs Uhr aufstehen heißt es von nun an, beten, antreten, die Bauern warten auf billige Arbeitskräfte.

Wer aufmuckt, auf den warten Schläge und Arrest im Besinnungszimmer; die Holzpritsche wird dort morgens nach oben geklappt, dass der Zögling nur stehen oder auf dem Boden sitzen kann. Und immer ist Schwester Joachim da. "Tut freundlich, und dann klebt sie dir eine, weißt nie, woran du bist," sagt Klotzbücher. Nachts sind 30 Kinder in einem Saal. Wer auf die Toilette muss, soll klingeln. Wer klingelt, wird bestraft.

Am Donnerstag und Freitag dieser Woche tagt zum letzten Mal der "Runde Tisch Heimerziehung", kommenden Montag wird Antje Vollmer, die Moderatorin des Gremiums, vor der Bundespressekonferenz die Ergebnisse von zwei Jahren Beratung vorstellen. Sie werden viele enttäuschen, die in den fünfziger und sechziger Jahren in einem Kinder- oder Erziehungsheim lebten: Das Unrecht, das in den Einrichtungen geschah, wird anerkannt, Entschädigungen für erlittene Gewalt oder entgangenen Lohn aber soll es nur im Einzelfall geben. Das ist ein Fortschritt, immerhin. Wer aber die Bitterkeit der Kinder von damals verstehen will, muss sie besuchen; es sind schwer erträgliche Geschichten vom Unrecht in einem Staat, der ein Rechtsstaat sein wollte.

Zwei Heimkinder also: Jürgen Beverförden und Helmut Klotzbücher, 66 Jahre alt der eine, 71 der andere. Beverförden kommt mit schnoddriger Selbstsicherheit daher, er war Gewerkschaftssekretär und SPD-Politiker, trägt Schnauzbart und ein Wollsakko. Er hat bei der niedersächsischen Stadt Bramsche einen Kotten aus dem 18. Jahrhundert renoviert; die Glasfront des Hauses gibt den Blick auf Wiesen frei, das hohe Bücherregal von Jürgen Beverförden ist voll.

Eine Mark fünfzig pro Kind und Tag

Helmut Klotzbücher wohnt in Singen in der Nähe des Bodensees auf 40 Quadratmetern mit Kiefernmöbeln, einer alten Stereoanlage und einem neuen Fernseher. Das Haus ist ein freudloser Betonbau voll einsamer alter Männer und dem Geruch von aufgewärmtem Essen. Er fährt einen rostenden Opel, den braucht er. Ein Bein fehlt, die Hüften sind kaputt, jeder Krückenschritt eine Qual. Klotzbücher ist nicht gewohnt, dass andere Menschen auf seinem zersessenen Sofa sitzen; er hat Kuchen gekauft und bedient schüchtern seinen Gast.

Die beiden kennen sich und reden schlecht über den anderen. Beverförden hat mit am runden Tisch beraten, Klotzbücher engagiert sich im Verein ehemaliger Heimkinder (VEH). Der VEH liegt im Streit mit dem runden Tisch; er möchte insgesamt 25 Milliarden Euro Entschädigung notfalls vor Gericht erstreiten. Klotzbücher hält Beverförden für einen Anpasser, Beverförden Klotzbücher für realitätsfern. Heimkinder misstrauen einander - da immerhin sind sie sich einig. Beide reden sie, und hören nicht mehr auf. So lange haben sie geschwiegen. Jetzt quillt es hervor.

Stehst da von aller Welt verlassen, erzählt Beverförden. Bräuchtest einen, der dich in den Arm nimmt. Stattdessen musst du antreten, Handtuch und Bettlaken in der Hand, zur demütigenden Kontrolle. Sie sind selber überfordert, die Erzieher. Vor kurzem noch glaubten sie an Hitler und schossen auf die Russen. Eine Mark fünfzig bekommt das Heim pro Kind und Tag. Wie damit wirtschaften? Eine Schwester, so erzählt er, liebte die Kinder sehr. Sie bettelte auf den Bauernhöfen um Essen.

Der amerikanische Soziologe Erving Goffman hat Einrichtungen wie die Kinder- und Jugendfürsorgeheime der frühen Bundesrepublik "totale Institutionen" genannt. Der Tagesablauf ist bis ins Kleinste geplant. Das Kind soll funktionieren, der eigene Wille wird gebrochen, von den Erzieherinnen und Erziehern wird eine "harte Hand" verlangt. Dabei werden die meisten Heime von den Kirchen getragen - und von einem jungen Staat kontrolliert, der die Menschenwürde an den Anfang seines Grundgesetzes gestellt hat. Bund und Länder haben die Heimaufsicht, doch niemand kontrolliert die Heime. Kein Journalist recherchiert den Skandal, kein Richter macht ihm ein Ende. Mitten im Rechtsstaat gibt es einen rechtsfreien Raum. Wer anders ist, verschwindet im Heim: Kinder aus armen Familien, Scheidungskinder, Jugendliche mit langen Haaren.

Willst überleben im Heim, sagt Jürgen Beverförden. Lernst, die Demütigungen zu schlucken. Er hat eine Gabe, die andere nicht haben: Er liest, er kann Geschichten erzählen. Abends, wenn die Einsamkeit in den Schlafsaal kriecht und auch dem Starken an die Kehle fasst, öffnet er das Tor zur anderen Welt, flüsternd, dass draußen es niemand hört. Erzählt von Robinson Crusoe, vom Weglaufen, vom Meer. Das macht ihn stark.

Helmut Klotzbücher dagegen rebelliert. Er will zum Vater, von dem er nichts mehr hört. Nachts nässt er das Bett ein, mit 15. Am Morgen schlagen sie ihm das nasse Laken um die Ohren. Als das nichts hilft, kommt er nach Tübingen, da gibt es einen Arzt, der hat da eine neue Methode. Er wird festgeschnallt, sieht den Kasten mit den Drähten, die Klemmen befestigen sie an Glied und Hoden. "Du spürst, wie alles verbrennt, eine Bombe explodiert", sagt er. Fünf Stunden ist er ohnmächtig. Er nässt weiter ein, sie wiederholen die Prozedur. Da ist er unfruchtbar.

Erst vor einigen Jahren hat Helmut Klotzbücher seine Heimakte bekommen; als er in den achtziger Jahren danach fragte, hieß es noch, sie sei verschollen. Was damals justiziabel hätte sein können, ist heute verjährt. Er hat seine Geschichte griffbereit im Kiefernschrank liegen, sie ist voller vernichtender Urteile wie dem des Dr. Kretschmer, der ihm den Unterleib verbrannte: "In seiner Gesamtstruktur ist er sehr ungeformt und primitiv." Nur strenge Zucht könne da etwas ausrichten.

Und dann ist die Gelegenheit zu entkommen da, es ist der 27.November 1957. Nur ein Erzieher bewacht die Gruppe, die mit dem Loren-Zug vom Zementwerk, wo er arbeiten muss, zurück zum Heim fahren soll. Helmut Klotzbücher rennt die steile Böschung hoch, der Erzieher bekommt ihn an der Jacke zu fassen, er rutscht hinunter, da sind die Schienen, der Zug fährt los, die Räder des Waggons quetschen sein rechtes Bein ab; im Krankenhaus tastet er vergebens danach. Sammelt die Schmerztabletten und nimmt sie auf einmal, der Bettnachbar alarmiert die Schwester. Im Heim wartet der Leiter mit dem Stock: Fluchtversuche gehören bestraft.

Scham, ein Leben lang

Reha-Maßnahmen gibt es nicht, die Unfallrente behält das Heim. Seinen Vater wird Helmut nicht mehr sehen: Wenige Tage bevor er mit 21 Jahren entlassen wird, stirbt der.

Bei Jürgen Beverförden gibt es aber einen, der das System durchbricht: Sein Vormund merkt, dass der Junge begabt ist. "Wenn du die Lehre durchhältst, hole ich dich raus", sagt er. Und hält sein Versprechen. Der Bäckergeselle Beverförden zählt das Geld zusammen, fährt nach Irland - doch die Mutter will ihn nicht mehr sehen. Er geht nach Berlin, macht das Abitur nach, studiert, lernt seine spätere Frau kennen. Die Zeit im Heim vergräbt er. Nur manchmal ist er wie abwesend und fängt an, sich selber zu wiegen, zu pendeln wie ein ruheloses Tier. Ganz ruhig, sagt dann seine Frau und legt ihre Hand auf sein Knie.

Auch Helmut Klotzbücher schweigt, vierzig Jahre lang. Erzählt bei Bewerbungsgesprächen von einem Unfall, hangelt sich von Job zu Job, verdient genug, um ein tiefergelegtes Auto zu kaufen, und zu wenig, um etwas zu sparen. Eine Frau findet er nicht. Eine Heimat auch nicht. Alle zwei Jahre muss er umziehen - immer, wenn ihn die Albträume gefunden haben. Dann ist wieder eine Zeit lang Ruhe, bis sie wiederkommen, die Träume. Dann ist Schwester Joachim wieder da, die ihn im Heim gequält hat, sie schlägt ihn, zwingt ihn, Erbrochenes zu essen, nimmt seine Prothese weg. Erst in der neuen Wohnung ist wieder Ruhe; 24 Mal zieht er um.

Heimkinder werden nicht heimisch im Leben. Ihr Selbstbewusstsein ist zerstört. Sie können keine Nähe zulassen, nicht zu Partnern, nicht zu Kindern. Und sie schämen sich, ein Leben lang. Erst jetzt reden sie. Erst jetzt, wo die Dimension dessen sichtbar wird, was geschah: Nicht jedes Heim war ein Folterkeller - aber 30.000 bis 50.000 Kinder und Jugendliche erlebten bis in die siebziger Jahre hinein Gewalt, Missbrauch und Demütigung, schätzt man am runden Tisch.

Seitdem ist die Erinnerung wieder Gegenwart.

Beverförden steht für den Kompromiss. Er nutzt seine Kanäle zur SPD, schreibt Pressemitteilungen. Er versammelt die Heimkinder, in Osnabrück zum Beispiel die ehemaligen Zöglinge der Diakonie in Freistatt, eines der schlimmsten Heime überhaupt.

Für Klotzbücher hingegen bedeutet die Erinnerung: Zorn. 50.000 Euro will er, einen Teil für sich, einen Teil zum Verschenken. Er will keine Entschuldigungen hören, er hat genug von den Kirchen, auch wenn sie heute freundlich sind und das Heim lange nach seiner Akte gesucht hat. Die haben Geld. Die sollen zahlen.

Seine Albträume haben nachgelassen, der Phantomschmerz am fehlenden Bein brüllt seltener, nachts kann er jetzt schlafen. Ins Heim möchte er aber nie mehr, auch wenn das Alter nach ihm greift. Er hat eine Pistole besorgt. Gut verborgen wartet sie auf ihren Tag.

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