Vergangenen Donnerstag warb Familienministerin Lisa Paus (Grüne) noch einmal für ihr großes Projekt gegen Kinderarmut. Die geplante Kindergrundsicherung sei "ein wirklicher Systemwechsel", sagte sie zur ersten Lesung ihres Gesetzentwurfs im Bundestag, eine "ganz wichtige Investition in die Chancengerechtigkeit in Deutschland". Ärmere Familien dürften mit spürbar mehr Geld für ihre Kinder rechnen, bei der Unterstützung des Nachwuchses gebe es künftig eine Bringschuld des Staates, statt einer Holschuld der Bürger, eine einzige Stelle statt mehrerer Behörden werde künftig die Unterstützung berechnen. Alles werde einfacher und digitaler.
Gegen diese Sichtweise allerdings formiert sich harscher Widerspruch - und zwar ausgerechnet von denen, die für die Unterstützung von Familien mitverantwortlich sind, den Städten, Gemeinden und Landkreisen. Aber auch von der Bundesagentur für Arbeit (BA), die die Kindergrundsicherung künftig auszahlen soll, kommt Kritik. Dies geht aus den Stellungnahmen der Verbände und Einrichtungen hervor, die Grundlage sind für eine Expertenanhörung an diesem Montag im Bundestag.
Die Kosten für die Bürokratie dürften höher ausfallen als erwartet
Die Kindergrundsicherung sei "grundsätzlich sinnvoll und notwendig", heißt es zum Beispiel vom Deutschen Städtetag. Aus Paus' Gesetzentwurf aber resultierten "wenige Verbesserungen und sehr viele Verschlechterungen". Die BA kündigte an, die laufenden Bürokratiekosten für die Kindergrundsicherung dürften allein zum Start 449 Millionen Euro betragen und damit noch höher ausfallen als erwartet.
Die Kindergrundsicherung ist eines der größten Projekte der Ampelkoalition und wäre die umfassendste Reform zur Förderung von Familien seit Jahrzehnten. Es soll bisherige Hilfen wie Kindergeld, Kindersofortzuschlag für ärmere Familien und Bürgergeld für Kinder zusammenführen. Ein Kindergarantiebetrag soll das bisherige Kindergeld ersetzen, ärmere Kinder sollen darüber hinaus von einem Kinderzusatzbetrag profitieren. Insgesamt 5,6 Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis 24 Jahre sollen diesen Kinderzusatzbetrag in Anspruch nehmen können. Dazu zählen auch fast zwei Millionen Kinder, die derzeit Bürgergeld erhalten.
Damit, so das erklärte Ziel, soll vielen Eltern und jungen Erwachsenen der Weg zum Jobcenter erspart bleiben, weil der Bedarf nun durch die Kindergrundsicherung abgedeckt wird. Paus will zudem erreichen, dass mehr Familien als bisher ihr Recht auf Unterstützung wahrnehmen, bisher verzichten viele auf staatliche Hilfe, weil sie nichts von ihren Ansprüchen wissen oder die Beantragung zu kompliziert erscheint. Hierzu soll ein "Kindergrundsicherungscheck" ermitteln, ob eine Familie möglicherweise Anspruch auf den Zusatzbetrag hat, und Eltern gezielt informieren.
Der Gesetzentwurf sei "nicht tragbar", schreibt der Verband alleinerziehender Mütter und Väter
Laut Städtetag wird das aber so nicht funktionieren. Der Zugang zur Kindergrundsicherung "wird leider nicht erleichtert", schreibt der Verband, der vor allem größere Städte vertritt. "Eine automatische Benachrichtigung der Familien mit Anspruch auf den Zusatzbetrag wird es nicht geben", weil Antragsverfahren und die Einwilligung in den Datenaustausch unter Behörden einer Nachricht an die Familie im Wege stünden. "Es ist zu befürchten, dass wiederum ein Großteil der Leistungsberechtigten nicht erfährt, dass sie Anspruch auf den Zusatzbetrag hätten." Die BA-Vorständin Vanessa Ahuja schreibt in ihrer Stellungnahme, so wie der Kindergrundsicherungscheck geplant sei, führe er "zu neuen bürokratischen Abläufen, die enorme zusätzliche Aufwände verursachen", etwa weil zum nötigen Abruf von Daten erst die Zustimmung eingeholt werden müsste. Zudem fehlten wichtige Daten, um die Auskünfte geben zu können.
Überhaupt rechnet die BA mit deutlichem Mehraufwand durch die Kindergrundsicherung. Hintergrund ist vor allem, dass ein Teil der Kinder aus dem Bürgergeld ausscheiden würde und das Geld von einem neu geplanten "Familienservice" der Bundesagentur für Arbeit erhalten soll. Für einen anderen Teil gilt dies allerdings nicht, wenn die Kindergrundsicherung nicht reicht, um die nötigen Bedürfnisse abzusichern. Dies ist dann der Fall, wenn die Kinder ein Recht auf zusätzliche Hilfe haben, etwa bei Krankheit oder Schulbedarf. Der geplante Familienservice werde mehr Aufgaben stemmen müssen ohne die Jobcenter "dabei maßgeblich zu entlasten", schreibt BA-Vorständin Ahuja.
Entschiedener Widerspruch kommt auch vom Deutschen Städte- und Gemeindebund und vom Deutschen Landkreistag. Man lehne den Gesetzentwurf ab, heißt es in deren gemeinsamer Stellungnahme. "Das Ziel, eine für die Familien einfachere und leichter verfügbare Leistung zu gewähren, wird nicht erreicht." Der Aufwand für bedürftige Familien und für die Behörden werde "nicht reduziert, sondern sogar erhöht".
Die kommunalen Verbände stört, dass die Kindergrundsicherung vom Familienservice der BA organisiert werden soll, statt die Hilfen wie bisher über die Familienkassen, die Jobcenter (für ärmere Familien) und die Kommunen zu verteilen. Hierfür sollen die Familienkassen nach Paus' Plänen zum Familienservice ausgebaut werden. Die Familienkassen hätten bislang lediglich gut 100 Standorte in Deutschland. Um eine flächendeckende Versorgung in jedem Landkreis und in jeder kreisfreien Stadt zu erreichen "müssten also 300 Unterbehörden neu geschaffen werden". Dies aber sei unnötig, weil die Jobcenter dies für ärmere Familien übernehmen könnten, sie hätten mehr als 1000 Standorte.
Auffällig ist, dass auch gesellschaftliche Akteure, welche die Reform grundsätzlich unterstützen, Änderungsbedarf sehen. Der Gesetzentwurf sei für ihn "nicht tragbar", schreibt der Verband alleinerziehender Mütter und Väter. Der Deutsche Gewerkschaftsbund sieht "noch einige erhebliche Defizite", die nun im Gesetzgebungsverfahren nachgebessert werden müssten.