Kinderbetreuung:Ist gratis auch gut?

Kinderbetreuung

Hier findet jeder einen Platz: Krippen-Kinder essen in Hamburg Kartoffelsuppe zu Mittag.

(Foto: Georg Wendt/dpa)
  • In Niedersachsen müssen Eltern ab 1. August weitestgehend keine Kita-Gebühren mehr zahlen.
  • Kritik an dem Projekt der rot-schwarzen Regierung kommt von der Opposition. Sie warnen vor Investitionen, die in Kitas ausblieben könnten.
  • Noch weiter als Niedersachsen geht Berlin. Als erstes Bundesland schafft die rot-rot-grün regierte Hauptstadt die Gebühren für Kitas komplett ab.

Von Thomas Hahn, Hamburg, und Jens Schneider, Berlin

Manche Veränderungen kann man gar nicht schlecht finden, deshalb schimpft Dirk Bitterberg auch nicht gleich los. Er leitet beim Bezirksverband Braunschweig der Arbeiterwohlfahrt (AWO) das Geschäftsfeld Familie und Soziale Dienste - wie könnte er etwas dagegen haben, dass Niedersachsens rot-schwarze Landesregierung zum 1. August die Kita-Gebühren weitestgehend abgeschafft hat und damit die Eltern entlastet, die ihren Nachwuchs in die 30 Braunschweiger AWO-Kindertagesstätten schicken? "Ich finde das prinzipiell richtig", sagt er.

Trotzdem, seine Begeisterung hält sich in Grenzen. "Unsere Sorge ist, dass mit der Beitragsfreiheit die Debatte über die Strukturqualität der Kitas ad acta gelegt wird", sagt er.

Die gebührenfreie Kita ist ein tolles Thema für Regierungspolitiker in Zeiten des Konjunkturhochs: leicht verständlich, populär, großzügig. Im Landtagswahlkampf des vergangenen Jahres hat die Niedersachsen-SPD mit Ministerpräsident Stephan Weil damit viele Leute auf ihre Seite bringen können. Weil die CDU ebenfalls damit geworben hatte, waren sich beide Parteien nach der Wahl in den Koalitionsverhandlungen schnell einig.

Im Mai einigten sich Land und Kommunen auf die Finanzierung - demnach wird das Land bis 2022 für die Gebührenfreiheit 1,4 Milliarden Euro aufwenden. Ende Juni passierte das Gesetz mit den Stimmen von SPD und CDU den Landtag. Mareike Wulf, Sprecherin für Kultus in der CDU-Fraktion, nannte es "das bedeutendste familien- und bildungspolitische Projekt der letzten zehn Jahre".

Acht Kita-Stunden an fünf Tagen der Woche sind für Kinder von drei Jahren bis zur Einschulung kostenfrei. "Die Beitragsfreiheit ist ein bildungspolitischer Meilenstein", meldet das Kultusministerium von Ressortchef Grant Hendrik Tonne (SPD). "Hierdurch stärkt das Land auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf."

Aber ist gratis auch gleich gut? Nein, sagt die Opposition. Weitgehend kostenlose Bildung wollen auch Grüne und FDP. Aber beide Parteien fänden Investitionen in die Qualität der Kitas wichtiger, die unter Fachkräftemangel und Zeitnot leiden. Von Erzieherinnen und Erziehern hört man ähnliche Kritik. "Wir haben seit 24 Jahren ein Kindertagesstätten-Gesetz und die Rahmenbedingungen haben sich nicht verbessert", sagte Anfang des Jahres im NDR die Westerbecker Kita-Leiterin Renate Koch.

"Geschmäckle eines wahlpolitischen Geschenks"

Für das Diakonische Werk, einen anderen Träger, sagt Sprecher Sven Quittkat: "Man muss wissen, dass man durch die Gebührenfreiheit nicht investiert hat in Qualitätssicherung, in Sprachfördermaßnahmen, Integrationsmaßnahmen, in Fortbildungen und Vorbereitungszeiten für die Erzieherinnen." Und AWO-Mann Bitterberg findet: "So wie die Beitragsfreiheit umgesetzt wurde, hat sie das Geschmäckle eines wahlpolitischen Geschenks."

Noch weiter als Niedersachsen geht Berlin. Als erstes Bundesland schafft die rot-rot-grün regierte Hauptstadt die Gebühren für Kitas komplett ab - also auch für Kinder unter einem Jahr. Es ist der letzte Schritt eines auch hier umstrittenen Stufenprogramms. 2007 hatte der Berliner Senat damit begonnen. Das Land sei damit "Vorreiter für mehr Chancengleichheit", verkündet der Regierende Bürgermeister Michael Müller. "Ich freue mich, wenn andere Länder nachziehen."

Doch in Berlin ist wenig Begeisterung zu spüren. Kritiker monieren auch hier, dass die Entlastung nett sein mag, aber an den Problemen vorbeigehe. Gemeint ist auch die Frage der Qualität - wobei der Senat zum August auch den Betreuungsschlüssel für die Kitas gesenkt hat. Derzeit aber wünschten viele Eltern, sie könnten überhaupt einen Kita-Platz in der Metropole finden. Im Frühjahr gründete sich wegen des großen Mangels eine landesweite Elterninitiative gegen die "Kita-Krise". Tausende Eltern demonstrierten für mehr Betreuungsplätze - manche beklagten, dass sie wegen des fehlenden Kita-Platzes ihren Job nicht antreten könnten. Sie würden im Zweifel gern Gebühren zahlen, hieß es.

In der Hauptstadt fehlten im Frühjahr Schätzungen zufolge rund 3000 Plätze. Aktuell dürfte sich die Lage nach Einschätzung der Bildungsverwaltung zunächst etwas entspannen - weil 30 000 Schulanfänger die Kitas verlassen. Aber es sei klar, dass Berlin mehr Kita-Plätze brauche, heißt es auch aus der von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) geführten Behörde. Es gibt ein ehrgeiziges Ausbauprogramm, seit 2013 wurden jährlich rund tausend Erzieher zusätzlich eingestellt.

Doch das reicht nicht. Die Elterninitiative zur "Kita-Krise" fordert bessere Arbeitsbedingungen und höhere Gehälter für Erzieher. Scheeres unterstützt das - aus eigenem Interesse. Für den Ausbau braucht Berlin bis Ende 2020 rund 5000 zusätzliche Erzieher.

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