Wenn in der Ukraine der Luftalarm aufheult, checken die meisten erst mal Telegram auf ihrem Handy. Denn die ukrainische Luftwaffe betreibt dort einen Kanal, auf dem sie akribisch jedes gesichtete russische Flugzeug, jede Drohne und jede Rakete dokumentiert. So präzise ist keine der Warn-Apps, und erst recht sind es nicht die Sirenen in den großen Städten. An vielen Tagen gibt es in dem Kanal alle paar Stunden ein Update. In dieser Nacht aber kam alle paar Minuten eine neue Nachricht: 0.43 Uhr: Achtung! Region Chmelnyzkyj – Bedrohung durch Angriffe von unbemannten Luftfahrzeugen. 0.45 Uhr: Drohne auf Kiew von Nordwesten. 0.52 Uhr: Shahed nach Saporischschja von Norden. Und so weiter. Insgesamt soll der Alarm sieben bis acht Stunden gedauert haben.
Laut der ukrainischen Luftwaffe hat die russische Armee in dieser Nacht eine Rakete und 89 Drohnen gegen die Ukraine eingesetzt. Alle Drohnen und die Rakete konnte die Flugabwehr abfangen. Der Angriff war trotzdem einer der schwersten in diesem Jahr, und das Hauptziel war nach Langem wieder Kiew, allein über der Hauptstadt sollen 40 der Drohnen abgeschossen worden sein.
Dienten die Angriffe womöglich vor allem als Test der Abwehr?
Die ukrainische Luftwaffe erinnerte mit dem Video einer brennenden und langsam zu Boden trudelnden Shahed-Drohne daran, dass auch abgefangene Flugkörper eine große Gefahr darstellen, vor allem wenn sie über Städten abstürzen. Laut den ukrainischen Behörden soll bei dem Angriff mindestens ein Wohnhaus durch solche herabfallenden Trümmer in Brand geraten sein.
Obwohl der Angriff dank der Flugabwehr glimpflich ausging, ist er doch Anlass zur Sorge. Serhij Popko, der Chef der Militärverwaltung von Kiew, teilte auf Telegram mit, die russischen Angreifer würden nach neuen Wegen und dem richtigen Zeitpunkt für Angriffe auf die Hauptstadt suchen. Kiew sei noch immer eines der vorrangigen Ziele der Invasoren. Möglicherweise diente der Angriff vor allem als Test der ukrainischen Luftverteidigung. In der Vergangenheit hat die russische Armee immer wieder versucht, die ukrainische Flugabwehr erst mit Drohnen zu beschäftigen, um dann mit den teureren und gefährlicheren Raketen und Marschflugkörpern durchdringen zu können.
In jedem Fall ist der Angriff eine Erinnerung daran, wie groß die Bedrohung durch russische Luftangriffe für das ganze Land weiterhin ist und wie sehr die Sicherheit der Zivilbevölkerung von einer funktionierenden Luftabwehr abhängt – und damit maßgeblich von Unterstützung durch den Westen.
Das Verbot, mit Westwaffen Ziele über der Grenze anzugreifen, hilft Russland
Der Sicherheitsexperte Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr München kommentierte den Angriff auf der Plattform X: „Die Strategie, dass die Ukraine keine Stellungen in Russland angreifen darf, von denen aus solche Angriffe gestartet werden, zahlt sich aus: für Russland.“ Die westlichen Verbündeten und Unterstützer der Ukraine untersagen es Kiew nach wie vor, mit den von ihnen gelieferten Waffen militärische Einrichtungen in Russland anzugreifen, außer von diesen geht eine ganz direkte Bedrohung aus.
Deshalb sind solche Angriffe für die russischen Streitkräfte nach wie vor relativ risikolos. Die Drohnen und Raketen werden meist von Stellungen, Flugzeugen und Schiffen aus gestartet, die sich in russisch kontrolliertem Gebiet oder über beziehungsweise im Schwarzen Meer befinden. Die ukrainischen Streitkräfte haben dem kaum etwas entgegenzusetzen, es bleibt nur die Hoffnung, die Geschosse im ukrainischen Luftraum abfangen zu können.
Terror gegen die Zivilbevölkerung soll das Land unbewohnbar machen
Dazu folgen diese anhaltenden russischen Luftangriffe auf die ganze Ukraine einer größeren Strategie: An der Front kommen die russischen Invasoren zwar stetig, aber nur langsam voran, und Experten haben ihre Zweifel, ob sie dazu in der Lage wären, selbst eine kleine Stadt einzunehmen und dann auch zu halten. Mit konventionellen militärischen Mitteln wird die russische Armee die Ukraine nach derzeitigem Stand eher nicht einnehmen.
Deshalb sollen die Angriffe auf die Infrastruktur und die ständige Terrorisierung der Zivilbevölkerung das Land unbewohnbar machen und möglichst viele Ukrainer zur Flucht drängen. Schon jetzt bricht wegen zerstörter und beschädigter Kraftwerke die Stromversorgung immer wieder zusammen. Nächtliche Angriffe wie die jüngste Drohnenattacke sollen auch durch die ständigen Luftalarme die Bevölkerung zermürben.
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij kündigte zwar bereits im Juni an, die Energieversorgung bis zum Winter wieder so weit wie möglich aufzubauen. Derzeit stehe aber nur die Hälfte der Kapazitäten zur Verfügung, die im Winter zu Spitzenzeiten nötig sei. Die Zeit spielt im Moment für Russland. Viele Ukrainer werden wahrscheinlich nicht unbegrenzt in dunklen, kalten Wohnungen und mit der ständigen Gefahr eines russischen Luftangriffs ausharren wollen.