Von einem offenen Geheimnis zu sprechen, wäre noch untertrieben. Was seit Ende vergangener Woche auf der Internetseite der US-Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines über den grausamen Mord am saudi-arabischen Journalisten Jamal Khashoggi zu lesen ist, enthält vermutlich nichts, was man in der Bundesregierung nicht längst wüsste.
Das gilt wohl auch für die direkte Verbindung von Kronprinz Mohammed bin Salman. Salman habe 2018 den Einsatz im saudischen Konsulat in Istanbul zur Gefangennahme oder Tötung Khashoggis genehmigt, heißt es in dem Bericht. Was neu ist, sind denn auch nicht die Erkenntnisse, sondern die US-Politik. Hatte der frühere Präsident Donald Trump die Informationen ignoriert und seine schützende Hand über den Verbündeten gehalten, will sein Nachfolger Joe Biden zumindest ein Zeichen setzen. Die US-Regierung verhängte Einreiseverbote gegen 76 Personen aus Saudi-Arabien, die in den Fall verwickelt sein sollen.
Damit gerät auch die Bundesregierung in Zugzwang, jedenfalls aus Sicht der Opposition. "Die Bundesregierung muss erklären, ob die Amerikaner diese Information mit den deutschen Behörden geteilt haben", forderte der außenpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Omid Nouripour. Zudem müsse sie im Rahmen eines neuen europäischen Menschenrechtsmechanismus Sanktionen gegen Mohammad bin Salman anstreben und den Internationalen Strafgerichtshof anrufen.
Mord an Khashoggi:"Ein Leben für Jamal, aber ohne Jamal"
Hatice Cengiz war die Verlobte des saudischen Publizisten Jamal Khashoggi, der vor zwei Jahren in Istanbul ermordet wurde. Wie der Mann, den sie nie heiraten konnte, weiterhin ihr Leben bestimmt.
"Dem Haus Saud muss Deutschland klarmachen, dass keine normalisierten Beziehungen mit ihm möglich sind, solange ein Mörder, der seine Kritiker zerstückeln lässt, Kronprinz des Landes ist", verlangte Nouripour. Auch die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des Bundestags, Gyde Jensen (FDP), forderte personenbezogene Sanktionen.
Den Kronprinzen treffen bisher keine Sanktionen
In der Bundesregierung will man allerdings erst einmal keine neue Lage sehen - und sich der offenen Schuldzuweisung an den Kronprinzen vorerst auch nicht anschließen. "Ohne genaue Kenntnis der Dokumente", die dem US-Bericht zugrunde lägen, gebe es "keine neuen abschließenden Bewertungen oder Schlussfolgerungen", sagte am Montag ein Sprecher des Auswärtigen Amtes.
Die Bundesregierung hatte auf den Mord an Khashoggi im November 2018 mit einer Verschärfung eines bereits geltenden Rüstungsexportstopps nach Saudi-Arabien reagiert. Außerdem verhängte sie im Einklang mit den Partnern in der Europäischen Union Einreisesperren gegen 18 Bürger des Königreiches. Die Personen stünden "mutmaßlich in Verbindung zu dieser Tat", hatte Außenminister Heiko Maas (SPD) das damals begründet.
Fall Khashoggi:Fünf Todesurteile und viele Fragen
Riad verkündet die Schuldsprüche im Fall des ermordeten Journalisten Jamal Khashoggi. Doch die Hauptverdächtigen kommen unter fragwürdigen Umständen frei.
Für Maas markierte das damals eine Kehrtwende in seiner Politik gegenüber Riad. Ursprünglich war ihm daran gelegen gewesen, die Beziehungen wieder zu verbessern, nachdem kritische Äußerungen seines Vorgängers Sigmar Gabriel über die Rolle Saudi-Arabiens in der Region in Riad Empörung ausgelöst hatten. Bei einem gemeinsamen Auftritt mit dem damaligen saudischen Außenminister Adel al-Dschubeir bedauerte Maas am Rande der UN-Generalversammlung wenige Monate vor dem Mord die "Missverständnisse". Funkstille will er aber auch jetzt nicht riskieren. "Genauso wie die USA das tun, werden wir den kritischen Dialog mit Saudi-Arabien fortführen", sagte sein Sprecher.
Allerdings wird auch in den USA die neue Linie als nicht konsequent genug kritisiert - insbesondere, weil die Regierung den Kronprinzen zwar klar als Verantwortlichen für den Mord an dem Publizisten Jamal Khashoggi benennt, aber ausgerechnet ihn bei den Sanktionen ausspart. Auf die Frage eines Reporters, ob die sich die USA eventuell noch Sanktionen gegen den 35-Jährigen vorbehalten würden, reagierte Biden am Wochenende ausweichend und verwies auf ein für Montag geplantes Briefing zum Umgang mit dem Königreich. Im Wahlkampf hatte Biden noch Strafmaßnahmen gegen Mohammed bin Salman als eine erwägenswerte Möglichkeit genannt.
Im Amt scheinen den Demokraten nun die Beschränkungen der Realpolitik einzuholen, der Sender CNN berichtete unter Berufung auf Regierungskreise, für die Entscheidung vom Freitag seien direkte Sanktionen gegen den Kronprinzen nicht als Option diskutiert worden, weil sie Militärinteressen der Vereinigten Staaten hätten gefährden können. Bidens Sprecherin Jen Psaki meinte wohl Ähnliches, als sie dem Sender am Sonntag sagte, die USA verhängten keine Sanktionen gegen politische Führer von Ländern, mit denen man diplomatische Beziehungen pflege. Es gebe "effektivere Wege" um sicherzustellen, "dass so etwas nicht noch einmal passiert". Weitere Maßnahmen verkündete Bidens Sprecherin Psaki am Montag dann nicht, auch Mitarbeiter des US-Außenministeriums sagten, sie rechneten nicht mit weiteren Sanktionen.