Rheinisches Braunkohlerevier:"Unser Dorf ist nur noch ein Leichnam"

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Leben an der Abbruchkante: Demonstranten blicken im Sommer 2015 auf einen Schaufelradbagger im Tagebau Garzweiler. (Foto: Marius Becker/AP)
  • Das Dorf Keyenberg im Rheinischen Braunkohlerevier soll in drei oder vier Jahren dem Tagebau weichen.
  • Manche haben sich dem Schicksal bereits gefügt: dem Energiekonzern RWE zufolge sind die meisten Menschen im Dorf bereit, umzuziehen.
  • Doch es regt sich auch Protest: Am Samstag wollen Tausende Kohlegegner per Sternmarsch nach Keyenberg marschieren.

Von Christian Wernicke, Keyenberg

Heimat ist Stress für Bernd Pieper. Jedenfalls jetzt und hier, im Rheinischen Braunkohlerevier. Seit seiner Geburt lebt der 56 Jahre alte Familienvater in Keyenberg, in dem beschaulichen Straßendorf hat er sein Haus gebaut, dreimal war er hier Schützenkönig. Und doch will er nun weg, "weil wir irgendwann eh alle wegmüssen". Alle haben ihm das gesagt, die Politik, die Behörden, der RWE-Konzern - immer wieder: Dass in drei, vier Jahren das gesamte Dorf plattgemacht wird, samt Kirche und Kneipe mit Kegelbahn. "Da wollten wir nicht die Letzten sein, die das Licht ausmachen", sagt Pieper und fährt sich mit der Hand übers Gesicht. Er muss schlucken, sein Kinn zuckt. "Unser Dorf ist nur noch ein Leichnam: Die Hülle ist noch da, aber die Seele zerfällt."

Früher fühlte Bernd Pieper sich anders. Stärker. Als junger Mann, so erzählt der Monteur, habe er mit seinem Vater gegen die riesigen Bagger protestiert. Dagegen, wie deren Schaufelräder Äcker und Wiesen aufrissen und im Tagebau nach Braunkohle gruben und seine Heimat verheizten: "Nur, damals interessierte das keinen." Ein paar Jahre ist es erst her, dass er seinen Schützenbrüdern mit Rücktritt drohte, falls die ausgerechnet die Musikkapelle von RWE zum Fest aufspielen ließen.

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Es half nichts, der Tagebau "Garzweiler II" rückte näher. 2018 fiel die letzte Verteidigungslinie, die A61 am Ostrand von Keyenberg wurde wegradiert ( siehe Karte). Da gab er auf. Im Mai unterschrieben Bernd Pieper und seine Frau Monika die Verträge mit RWE. Sie verkauften ihr Haus, erwarben eine Parzelle in "Keyenberg-Neu". Im Sommer ist der Bau fertig, dann ziehen sie ins Umsiedler-Dorf: "Wir wollen da neu anfangen als Dorfgemeinschaft."

Nur, wird das noch was? Plötzlich drohen Energiewende und Kohleausstieg einen Strich zu machen durch alle Pläne. Die Empfehlung der Kohlekommission - weniger Braunkohle für mehr Klimaschutz - greifen zuerst im Rheinischen Revier. Hier werden bis 2022 die ersten Kraftwerke eingemottet, sogar der umkämpfte Hambacher Forst soll bleiben. Und Umweltschützer sowie ein Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) rechnen vor: Keyenberg, das sterbende Dorf, es lebt! Laut DIW sinkt der Bedarf an Braunkohle bis zum Ausstieg 2038 so sehr, dass man die Reserven unter Piepers Heimatscholle nicht mehr verfeuern müsse. Genau dafür werden am Samstag Tausende Kohlegegner per Sternmarsch nach Keyenberg marschieren: Niemand dürfe die 1500 Menschen in Keyenberg und Kuckum, in Ober- oder Unterwestrich oder Berverath "vertreiben". Die Demonstranten wollen die fünf Ortschaften retten, nach "Hambi bleibt" singen die Umweltaktivisten nun "Alle Dörfer bleiben!"

"Ich bin's satt, dass diese Leute in meinem Namen reden"

Bernd Pieper wird nicht mitlaufen am Samstag. "Auf keinen Fall!", blafft er und schlägt mit der Hand auf den hölzernen Tisch vor ihm, "ich bin's satt, dass diese Leute in meinem Namen reden." Das seien dieselben Typen, die voriges Jahr im Hambacher Forst "für ihre Bäume gekämpft haben - aber nichts getan haben für die Menschen hier". Sogar eine Gegendemo wollte er anzetteln, aber die hat die Polizei verboten. Früher, ja, da hätte sich Pieper solchen Widerstand gewünscht - "aber jetzt ist es zu spät, die meisten im Dorf haben sich längst entschieden wegzuziehen". Mit dem Finger zeigt er durchs große Fenster hinaus zu Veranda und Gartentisch: "Da liegt jetzt schon immer der Kohlenstaub, hier ist es kaum mehr lebenswert."

Heimat, das ist für Pieper jener Ort, wo seine Familie, Freunde und Nachbarn leben. Der passionierte Schütze und Karnevalist fasst sich an die Stirn: "Aber wenn Keyenberg jetzt in Alt und Neu zerfällt - wo feiern wir dann zusammen?" Und wo komme die Sporthalle hin oder der Friedhof? Pieper spürt Angst. Die Angst macht ihn wütend. "Ich will nicht zweimal verarscht werden", sagt er, "erst zwingt man uns wegzuziehen - und dann wäre ich der Volltrottel, der umsonst umgesiedelt ist." Pieper wischt sich übers rechte Auge, er muss wieder schlucken.

RWE bestätigt, die meisten Menschen im Dorf seien bereit, dem Bagger zu weichen. "Mit 60 Prozent der Bewohner haben wir uns schon geeinigt, mit weiteren 20 Prozent stehen wir in Verhandlungen," sagt Erik Schöddert, der oberste Umsiedlungsmanager im Konzern, "das geht hier sogar schneller voran als anderswo". Die Demonstration am Samstag will bei RWE niemand begreifen. "Alle Dörfer bleiben, das weckt völlig falsche Hoffnungen", sagt Schöddert. Seine Kollegen von der RWE-Bergbauplanung rechnen vor, dass man in den Jahren bis 2038, weil der benachbarte Tagebau Hambach aus Rücksicht auf den Forst verkleinert werde, erst recht jede Tonne Kohle aus Garzweiler II brauche. 2016 hatte die rot-grüne NRW-Regierung Garzweiler II um 400 Millionen Tonnen verkleinert (siehe Karte). Die übrig gebliebenen 700 Millionen Tonnen, so RWE, müssten alle "ausgekohlt" werden. Das DIW-Gutachten? Alles Quatsch, "die Zahlen sind falsch". Man bedauert: Alle fünf Dörfer müssten fallen.

Alt-Keyenberg fiele 2024, es ist das Front-Dorf. In der Dielenwand von Barbara Ziemann-Oberherr sind als Vorboten der Bagger schon erste Risse zu sehen: "Das Haus setzt sich, seit RWE hier bei uns das Grundwasser abpumpt." Die 58-Jährige bereitet die Hochzeit ihrer Tochter vor, "aber vorher steht noch die Demonstration an". Auf dem Wohnzimmertisch liegen kleine Anstecker. Gelbe Kreuze, die RWE bedeuten sollen: Hände weg von unserem Dorf. Ziemann-Oberherr nennt sich "eine Dorfbewohnerin im Widerstand". Seit 38 Jahren wohnt sie hier, "dies ist längst meine Heimat". Hier kegelt sie, turnt sie, singt sie im Kirchenchor. Sie bleibe, so sagt Ziemann-Oberherr, weil der Umweltschutz sie antreibe, aber auch "wegen der Ungerechtigkeit, dass RWE all den Landwirten und Pferdehaltern mit Wiesen und Äckern bisher kein faires Angebot macht". Auch der Bäcker werde im Stich gelassen. Und wer weiß, falls das alte Dorf doch gerettet wird, könnten ja neue Bewohner in die leeren Häuser ziehen: "Alle Welt sucht Wohnungen." Solange niemand wisse, "was dieser Kohlekompromiss bedeutet für uns an der Abbruchkante", solange harrt sie aus. Notfalls bleibt ihr die Flucht nach Westen, nach Keyenberg-Neu: Da hat sie sich mit ihrem Mann ein Baugrundstück reserviert.

Die Unsicherheit nagt an den Nerven. Bei allen, sogar bei Menschen, die längst sicher sind vorm Bagger. Wie in Kaulhausen, dem Dorf, das dreieinhalb Kilometer westlich von Keyenberg liegt. Dort wird anno 2038 der Tagebau enden, aber schon vor zwei Jahren hat RWE Michael Königs einen acht Meter hohen Erdwall vor die Tür seines Doppelhauses geschüttet. Als Schutz gegen Kohlestaub und Dreck und gegen den Lärm der neuen Landstraße, die an der Abbruchkante entlanglaufen soll.

Jahrelang stritten Königs und sein Bruder von nebenan, ob man das gemeinsame Doppelhaus aufgeben und umsiedeln soll-te. Königs blieb - und hofft nun, dass der Kohleausstieg ihm wieder den Horizont eröffnet: RWE müsste dazu die Abbruchkante ein paar Hundert Meter korrigieren und den Wall abreißen. Sogar NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) hat das neulich von RWE gefordert. Bisher vergebens.

Bernd Pieper rüstet sich für den Umzug im Juni, Ende Mai feiert er noch sein letztes Schützenfest im alten Dorf. Für seinen Notfall, dass doch alles ganz anders kommt und die Bagger wegbleiben, hat er auch einen Plan. Er könnte nicht ertragen, dass dann irgendein Fremder in sein altes Eigenheim einzieht. "Bevor das passiert", sagt er, "sprenge ich's lieber in die Luft."

© SZ vom 22.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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