Kernkraftwerke Doel und  Tihange:Tausende Risse hinterm Deich

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Gefahr im Westwind: Das umstrittene Kernkraftwerk Doel. (Foto: Emmanuel Dunand/AFP)

Die Zustände an belgischen Meilern machen den Nachbarländern Sorgen. Aber bisher lässt Belgiens Regierung alle abblitzen.

Von Thomas Kirchner und Kristiana Ludwig, Aachen/Brüssel

Der Mann, der eine Schutzmaske mitgebracht hat, meldet sich als Erster. Zusammen mit einer gasdichten Brille und einem weißen Schutzanzug streckt er sie in die Luft. Die Aula des Kaiser-Karl-Gymnasiums in Aachen ist voll besetzt, an den Seiten stehen die Leute. "Einfache Mittel", sagt der Mann in ein Mikrofon. Die Stadt könnte sie an allen Schulen verteilen, schlägt er vor. Im Falle der radioaktiven Wolke seien die Kinder so zumindest auf dem Heimweg geschützt. Das Publikum applaudiert. Aachen bereitet sich auf den Ernstfall vor.

Die Feuerwehr Aachen verteilt Ratgeber, der OB fordert mehr Jodtabletten

Die Informationsveranstaltung für Bürger, die etwa 70 Kilometer vom belgischen Kernkraftwerk Tihange entfernt leben, wurde von Oberbürgermeister Marcel Philipp (CDU) organisiert. 90 Minuten lang haben die Menschen Wissenschaftlern und Politikern zugehört, einem Feuerwehrmann und einem Anti-Atom-Aktivisten. Sie halten grellorange Hefte in den Händen, "Katastrophenalarm" steht auf dem Ratgeber. Die Feuerwehr hat sie kistenweise verteilt. "Aachen ist die erste Stadt weltweit, die sich öffentlich auf einen Atomunfall vorbereitet", sagt der Allgemeinmediziner Wilfried Duisberg auf der Bühne. Alles ist denkbar, sagt OB Philipp, auch, dass "weite Teile dieser Gegend unbewohnbar werden".

An diesem Dienstag wird die Städteregion Aachen in einer Sondersitzung beschließen, gegen den Betrieb von Tihange zu klagen. Zusammen mit den niederländischen Kommunen Maastricht, Heerlen und Kerkrade will sie eine Kanzlei beauftragen, vor dem obersten belgischen Verwaltungsgericht, dem Staatsrat, gegen die Wiederinbetriebnahme des Meilers Tihange 2 im De-zember vergangenen Jahres zu klagen. Zusätzlich will sie vor einem Gericht in Brüssel die generelle Stilllegung von Tihange 2 erreichen, Auskunftsrechte der EU-Kommission geltend machen und möglicherweise eine Greenpeace-Klage gegen Tihange 1 unterstützen.

Die Kanzlei wird mit Rechtsanwälten in Brüssel und Düsseldorf tätig werden. Wie lange die Verfahren dauern werden, ist jedoch ungewiss. Oberbürgermeister Philipp fordert unterdessen vom Land Nordrhein-Westfalen, den Bestand an Jodtabletten aufzustocken und arbeitet an einem Katastrophenplan, wie alle Aachener bis zum Alter von 45 Jahren zügig versorgt werden können. Jod beugt bei radioaktiver Strahlung Schilddrüsenkrebs vor.

Im Zentrum der Kritik steht neben dem 1983 in Betrieb gegangenen Tihange 2 der Meiler Doel 3 (1982), zwei der insgesamt sieben belgischen Reaktoren, die 30 Prozent des Stroms liefern. Beide hatten seit 2012 die meiste Zeit stillgestanden, nachdem Tausende kleine Risse in den Reaktordruckbehältern festgestellt worden waren. Im November entschied die belgische Atomaufsicht aber, dass die "Wasserstoff-Flocken" kein Sicherheitsrisiko seien. Die Laufzeit wurde bis 2025 verlängert. Kurz nach Wiederanlaufen mussten die Blöcke am Jahresende wegen Pannen im nicht-atomaren Bereich abgeschaltet werden.

Auch die Bundesregierung hat sich eingeschaltet. Am Montag brachte Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) in Brüssel im Gespräch mit der belgischen Kollegin Marie-Christine Marghem und Innenminister Jan Jambon die deutschen Sorgen zum Ausdruck. Die Risse gäben weiterhin Anlass zur Beunruhigung, sagte sie anschließend. "Wir hätten es begrüßt, wenn die beiden Reaktorblöcke nicht wieder angefahren worden wären." Da Belgien 2025 aus der Atomkraft aussteigen wolle, wäre ein weniger abrupter Übergang, also ein früheres Abschalten älterer Meiler, energiepolitisch sinnvoller.

Beide Seiten vereinbarten, ein Abkommen zur Zusammenarbeit bei der Reaktorsicherheit zu schließen, außerdem gegenseitige Inspektionen. Zusätzlich versprach Belgien, im Laufe des Februar die 15 Fragen zum Thema zu beantworten, die Deutschland im Januar nach einer Expertenkonferenz verschickt hatte. Doel ist etwa 150 Kilometer von Deutschland, aber keine 3000 Meter von den Niederlanden entfernt. Die dortige Umweltministerin sowie die Vertreterin Luxemburgs hatten kürzlich ebenfalls in Belgien vorgesprochen und Anlagen inspiziert.

Vor dem Innenministerium in Brüssel demonstrierten Umweltschützer, die Schutzanzüge trugen und Jod-Tabletten verteilten. Belgien müsse dringend eine grenzübergreifende Umweltverträglichkeitsprüfung für die beiden AKW einleiten, forderten sie gemeinsam mit mehr als 700 000 Online-Unterstützern. Das schreibe eine 1991 im finnischen Espoo geschlossene UN-Konvention vor. Ein Präzedenzfall habe 2014 gezeigt, dass auch dann geprüft werden müsse, wenn die Lebensspanne eines AKWs verlängert werde. Damals ging es um zwei ukrainische Reaktoren, die zehn Jahre länger am Netz bleiben sollten als geplant. Eine solche Prüfung hätte sie sich auch gewünscht, sagte Ministerin Hendricks. Man müsse aber akzeptieren, dass Belgien dies mit dem Argument ablehne, es habe keine wesentliche Änderung bei den Kraftwerken gegeben.

Ihre belgische Kollegin Marghem sagte, sie verstehe die deutschen Sorgen. Aber jedes Land agiere gemäß seiner Tradition und seiner Geschichte. "Die Emissionen aus den vielen deutschen Kohlekraftwerken, die nun noch länger arbeiten, werden uns auch noch viele Jahre lang vergiften."

© SZ vom 02.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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