Süddeutsche Zeitung

Kernkraft:Japans Grundlast

Lesezeit: 4 min

Seit der Reaktorkatastrophe von Fukushima wächst der Anteil der erneuerbaren Energien im Land rasant. Nur die Regierung propagiert weiter die Kernkraft. Warum eigentlich?

Von Christoph Neidhart, Tokio

In ihrem neuen Energiekonzept hat sich die japanische Regierung verpflichtet, künftig Alternativenergien zu fördern. Dennoch setzt die Regierung weiterhin auf die Kernkraft. Im Jahre 2030 sollen laut Energiekonzept wieder 22 Prozent des Stroms von Atommeilern produziert werden. Die Atomenergie sei eine wichtige Stromquelle für die sogenannte Grundlast - darunter versteht man den minimalen Verbrauch während der Nacht. Zugleich will die Regierung laut Konzept Japans Abhängigkeit von der Kernkraft "so weit wie möglich verringern". Das sei nicht nur widersprüchlich, hält die Tageszeitung Asahi Shimbun Premier Shinzo Abe vor. Es sei auch unrealistisch, gehe von veralteten Ansätzen aus und ignoriere die rasante Entwicklung in der Energietechnik.

Auf der Insel Kyushu deckte der Solarstrom am 30. April 2017 75 Prozent des Bedarfs

Japan steigt derzeit in einem Tempo auf erneuerbare Energien um, das niemand erwartet hatte. So wurden 2017 Solaranlagen mit insgesamt sieben Gigawatt Kapazität installiert, 2018 könnten es noch mehr werden. Im Herbst dürfte die gesamte Kapazität der Solaranlagen 50 Gigawatt überschreiten. Anlagen für weitere 34 Gigawatt sind geplant. Obwohl Solarzellen nur während etwa 20 Prozent der Zeit ihre volle Leistung bringen, weil die Sonne nicht immer und schon gar nicht immer im idealen Winkel scheint, entspricht das der Leistung von etwa zehn Atomkraftwerken (AKW). Auf der Westinsel Kyushu mit 13 Millionen Einwohnern deckte der Solarstrom am 30. April 2017 insgesamt 73 Prozent des Bedarfs, ein Rekord. Produziert wurde an jenem Tag freilich noch mehr Elektrizität. Sie wurde gespeichert, indem Pumpwerke Wasser in höher gelegene Staubecken beförderten.

Die Produktion von Sonnenstrom ist unstet, ihre Schwankungen können das Netz destabilisieren, besonders gefährlich sind Sonnenfinsternisse. Normale Schwankungen dagegen lassen sich zusehends besser mit Batterie- und Speichertechniken ausgleichen; und künftig auch mit dem "intelligenten Netz", das in Japan entwickelt wird. Damit überholt sich die ein Jahrhundert alte Theorie der Stromwirtschaft, für die Grundlast brauche man Kohle-, Öl-, Gas- oder Kernkraftwerke, deren Ausstoß stabil ist. Erst recht, da die Verbrauchsspitzen in Japan auf die Zeit der stärksten Sonneneinstrahlung fallen; dann laufen im ganzen Land die Klimaanlagen.

Der rasante Ausbau der Sonnenenergie, und mit weniger Tempo anderer, ebenfalls dezentraler Energiequellen - Windanlagen und lokale Wasserkraftwerke etwa - ist jedoch keine Regierungspolitik. Im Gegenteil. Sie wird von Gemeinden, Unternehmen und Privathaushalten vorangetrieben. Abes Regierung behindert diese Entwicklung eher. Das Handels- und Industrieministerium (Meti) hat abgeschlossene Einspeiseverträge für 260 000 Solaranlagen gekündigt und die Einspeisevergütungen reduziert. Es fehle an Netzkapazitäten für Sonnenstrom - nicht zuletzt, weil die Strommonopole, die noch bis 2020 das Netz kontrollieren, Kapazitäten für ihre stillstehenden AKWs freihalten.

Obwohl die Mehrheit der Japaner und sogar Angehörige der Regierung die Kernkraft seit der Katastrophe von Fukushima ablehnen, drängt Abe weiter auf Atomstrom. Sein einstiger Mentor, Ex-Premier Junichiro Koizumi, sagt: "Solange Abe an der Macht ist, ist ein Ausstieg schwierig."

Die Zeitung Asahi Shimbun vermutet hinter dem Versprechen, die Alternativenergien zu fördern, sogar bloß Lippenbekenntnisse an die Wähler. Das Meti behandle die Erneuerbaren als "unzuverlässig". Es ignoriere nicht nur ihren Fortschritt, sondern auch, dass sich die Stromproduktion mehr und mehr dezentralisiere. Dennoch setze das Meti weiter auf Atomstrom und fossile Brennstoffe, besonders auf Kohle. Obwohl nach Fukushima lange Zeit kein einziger Reaktor am Netz hing, ohne dass es zu Engpässen gekommen wäre und derzeit nur acht Meiler laufen, behaupten die AKW-Betreiber, Japan könne auf die Kernenergie nicht verzichten. In Wirklichkeit brauchen nicht die Japaner den Atomstrom, sondern ihre Politiker. Das jedenfalls legt "Genpatsu Whiteout" (Atomreaktor-Whiteout) nahe, der Schlüsselroman eines Whistleblowers. Retsu Wakasugi, so sein Pseudonym, zeigt darin, dass die Politik vom Geldtropf des "Atomdorfs" abhängig ist, so nennt man die Atomwirtschaft. Der Whistleblower ist ein Beamter des Meti, seine Identität wurde nie gelüftet. Eine Namensliste im Internet entschlüsselt, welche seiner Figuren welche Beamten oder Politiker abbilden.

Ex-Verteidigungsminister Shigeru Ishiba, der sich als möglicher Nachfolger Abes in Szene setzt, verrät einen weiteren Grund der Regierung, an der Kernkraft festzuhalten: Schon aus militärischen Gründen dürfe Japan die Atomenergie nicht aufgeben. Mit ihr sei es eine "virtuelle Atommacht".

Takeo Kikkawa, Professor für Innovationsstudien an der Tokioter Universität für Naturwissenschaften, saß im Beirat des Meti für das neue Energiekonzept. Er sei kein Kernkraftgegner, betont er, erzählt aber, schon in der ersten Sitzung habe das Ministerium den Beirat wissen lassen, die Kernkraft sei tabu, ein Ausstieg komme nicht infrage. Ohnehin spielten die Experten kaum eine Rolle, berichtet er. "Die Energiepolitik wird nicht vom Ministerium gemacht, sondern vom Kabinettsbüro ( das Amt des Premiers, Anm.d.Red.). Und das denkt nur an die nächsten Wahlen." Das Energiekonzept sollte alle befriedigen, die Wähler, aber vor allem auch das Atomdorf. "Experten, die weiter vorausdenken, halten sich lieber zurück. Es könnte ihrer Karriere schaden, wenn sie dem Kabinettsbüro widersprächen", so Kikkawa.

"22 Prozent Atomstromanteil im Jahre 2030 seien gar nicht möglich", erklärt der Professor weiter. "Es sei denn, man baut neue Kernkraftwerke, und zwar bald, sonst werden sie nicht rechtzeitig fertig", so Kikkawa. Das lässt sich politisch nicht durchsetzen. Bis 2030 müssen 30 der 49 noch intakten Reaktoren aus Altersgründen abgeschaltet werden. "Oder man verlängert ihre Laufzeit von 40 auf 60 Jahre." Aber die ältesten Meiler seien besonders störungsanfällig, mithin die gefährlichsten. Zudem sind 17 der 39 Reaktoren, die überhaupt infrage kämen, Druckwasserreaktoren. "Diese Technik ist nicht mehr zeitgemäß", sagt Kikkawa: "Wenn wir keine neuen, modernen AKWs bauen wollen, ergibt die ganze Diskussion um die Kernenergie keinen Sinn."

Japans öffentliche Debatte dreht sich nur um die Erneuerbaren und die Kernenergie. "Dabei decken sie nicht einmal die Hälfte unseres Strombedarfs", so Kikkawa. 30 Prozent des Stroms stammen derzeit aus Kohlekraftwerken. Obwohl diese das Klima am stärksten belasten, baut Japan noch neue. Das sauberere Flüssigerdgas (LNG) dagegen lehnt die Regierung als Grundlastenergie ab, es sei zu teuer.

Vor einigen Jahren habe das vielleicht gestimmt, so Kikkawa. Heute längst nicht mehr, "dabei könnte LNG die Atomkraft ersetzen." Denn bis 2050, sage ihm seine Intuition, sei Japan atomstromfrei, sagt Kikkawa. Er seufzt und meint: Das neue Energiekonzept "ist wirklich nicht logisch".

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4064872
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 23.07.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.