Süddeutsche Zeitung

Kaukasus: Russlands Problemregion:Richter und Henker

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Die Spur der Anschläge von Moskau führt in den Kaukasus. Es ist eine Region, in der die Justiz nichts gegen folternde Polizisten unternimmt - und in der die Bevölkerung die Scharia als Fortschritt sieht.

Sonja Zekri

Sie waren der verstörendste Anblick bei der Geiselnahme im Moskauer Musical-Theater Nord Ost vor acht Jahren. Ihre Taten widersprechen allen kaukasischen Geschlechtertraditionen: Selbstmordattentäterinnen, sogenannte Schwarze Witwen, die Väter und Brüder rächen, die manchmal aber auch von den Kämpfern in die Schlacht geschickt werden, verkörperten wie niemand sonst eine Gewalt, die aus Verzweiflung geboren wird.

Auch die Anschläge am Montagmorgen in der Moskauer Metro sollen von Frauen verübt worden sein. Die Attentäterinnen selbst sind tot. Gesucht werden nun zwei Frauen mit "slawischem" Aussehen, die die Täterinnen auf ihrem letzten Weg begleitet haben sollen. Dennoch sprechen die Behörden von einer "kaukasischen" Spur.

Wie erkennt man den Feind? Dies ist eine der Schlüsselfragen in einem Konflikt, der auch nach 15 Jahren einer Lösung nicht nähergekommen ist. Wie kann es passieren, dass Alexander Tichomirow, geboren im buddhistischen Ulan-Ude, nach dem Übertritt zum Islam, einer Blitzausbildung in Kairo und der Pilgerfahrt nach Mekka unter dem Namen "Said Burjatskij" zu einem der führenden Ideolo-gen des islamistischen Untergrunds im Kaukasus werden konnte?

Als er Anfang März umgebracht wurde, fanden die russischen Beamten unter den Trümmern zwei Pässe und sein Notebook. Burjatskij alias Tichomirow war einer der populärsten Hassprediger der Region. Gestellt wurde er im inguschetischen Ekaschewo.

"Sie leben mit uns und unter uns"

Dort hatte er monatelang gelebt, von dort hatte er möglicherweise den Anschlag auf den Schnellzug Newskij Express im Novem-ber geplant. Dabei liegt Ekaschewo nicht nur wenige Kilometer vom Palast des inguschetischen Präsidenten Junus-Bek Jewkurow entfernt, sondern auch in der Nähe der FSB-Zentrale. In einigen dieser Videobotschaften sieht man ihn unter freiem Himmel, die Zeitung Nowaja Gaseta berichtet aber auch von einem Clip, der ihn im Sessel zeigt. Spielende Kinder laufen durchs Bild.

Die Islamisten sind kein Fremdkörper in den kaukasischen Gesellschaften, sie werden versorgt und finanziert, wenn auch oft durch ganz unislamische Schutzgelderpressungen. "Sie leben mit uns und unter uns", hat eine Beamtin in Inguschetien gesagt.

In einer Region, in der die Justiz Beamte, die den Haushalt ganzer Ministerien unterschlagen haben, nur zu winzigsten Geldstrafen verurteilt, in der folternde Polizisten so gut wie nie zur Verantwortung gezogen werden, erscheint selbst die Scharia als Fortschritt. Hier empfehlen sich die Untergrundkämpfer als Rächer, als Richter und Henker.

Und dass nur die allerwenigsten Dagestaner oder Tschetschenen wirklich von jenem Gottesstaat träumen, wie ihn sich die bärtigen Männer um Doku Umarow wünschen, ändert daran nichts. Viele Indizien sprechen dafür, dass die Tugendterroristen sich als gewöhnliche Killer anheuern lassen, um für Auftraggeber in Politik oder Wirtschaft ganz andere Ziele zu verfolgen. Aber auch das ändert nichts an der heimlichen Sympathie vieler Menschen im Kaukasus.

Schon heute sprechen informelle Scharia-Gerichte in den islamischen Republiken Recht. Bereits jetzt heißt es in Tschetschenien, die Kämpfer kontrollierten ganze Dörfer. Die Dschihadisten haben den Kaukasus schon jetzt verändert. In Inguschetien wagt es kaum noch ein Geschäft, Alkohol zu verkaufen, nachdem die Gotteskrieger Läden beschossen und Händler umgebracht haben.

Seriöse Aussagen darüber, wie viele Kämpfer tatsächlich in den Wäldern le-ben, gibt es nicht. Regelmäßig melden russische Behörden Triumphe wie den Tod Said Burjatskijs oder hochrangiger "Amire". Und doch nimmt die Gewalt zu.

Russland agiert in diesem Kampf weitgehend unbehelligt. Den tschetschenischen Unabhängigkeitskämpfern brachte zumindest ein Teil der westlichen Öffentlichkeit Verständnis entgegen. In den Tschetschenienkriegen musste sich der Kreml oft Kritik wegen der Gewalt gegenüber Zivilisten anhören. Die Dschihadisten um den Kleinkriminellen Doku Umarow aber haben mehr mit al-Qaida gemeinsam als mit dem kaukasischen Freiheitshelden Imam Schamil. Niemand in Europa oder Washington hat ein Interesse daran, dass diese Männer ihrem Ziel auch nur einen Fußbreit näherkommen.

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SZ vom 30.03.2010/hai
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