Süddeutsche Zeitung

Katrin Göring-Eckardt:Erde First, Gerechtigkeit First, Grüne auf Platz drei

Lesezeit: 3 min

Von Jakob Schulz, Berlin

Am Anfang steht ein Gänsemarsch. Dutzende neue Mitglieder der Grünen laufen hinter Katrin Göring-Eckardt durch die Reihen der Delegierten. Schließlich dirigiert die Spitzenkandidatin ihre Gefolgschaft hinter sich auf die Bühne wie in einem Townhall-Meeting, jene Wahlkampfveranstaltungen, die vor allem in den USA populär sind, weil die Kandidaten Volksnähe demonstrieren. Genau das will Göring-Eckardt mit dieser Rede auf dem Programmparteitag in Berlin schaffen: Ihre grüne Partei hinter sich und Mit-Spitzenkandidat Cem Özdemir versammeln. Das ist kein Selbstläufer bei einer Partei, deren Delegierte mehr als 2000 Änderungsanträge für den Entwurf des Wahlprogramms eingereicht haben.

Göring-Eckardt will sich hier beweisen. Heute kann sie eine Antwort geben auf all die Notizen von Beobachtern, sie mache als kluge Managerin zwar keine Fehler, bleibe aber auch oft farblos. Nicht wenige vermissen bei der Bundesfraktionsvorsitzenden so etwas wie ein Herzensthema, für das sie steht und brennt. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat die Spitzenkandidaten zuvor als "erfahren und seriös" gelobt. Die Frage ist: Reichen diese Eigenschaften? Gut 100 Tage vor der Bundestagswahl und angesichts des Umfragetiefs der Grünen ist ihr Auftritt vielleicht die beste Chance, ein solches Feuer zu entfachen.

Die Choreografen des Parteitags haben die mikronesische Klimaaktivistin Jolanda Yoab vor die Rede Göring-Eckardts gesetzt. Yoab berichtet in ergreifenden Worten über die Rolle des Pazifiks für die Menschen auf den mikronesischen Inseln - und was ein steigender Meeresspiegel für die Inselbewohner bedeutet. Vor einem an die Wand projizierten Foto der Erde aus dem All beschwört Göring-Eckardt die Bedeutung des Klimaschutzes. "Die Klimakrise ist grenzenlos!", ruft sie den mehr als 800 Delegierten zu. Auch wenn US-Präsident Donald Trump den Klimavertrag von Paris aufgekündigt habe und gegen die Welt in den Ring gestiegen sei: "Wir nehmen diesen Kampf an!"

Göring-Eckardt dient sich niemandem an, im Gegenteil. Kämpferisch zieht sie über die politische Konkurrenz her, über Martin Schulz, den "Vertreter der alten Kohle-SPD", über die "Klimaamateure" Angela Merkel (CDU), Sahra Wagenknecht (Linke), Christian Lindner (FDP). Ihre Lösung, unter anderem: sofort die 20 schmutzigsten Kohlekraftwerke in Deutschland abschalten, bis zum Jahr 2030 ganz aus der Kohleenergie aussteigen.

Wofür stehen die Grünen im Wahljahr 2017, um wen wollen sie sich besonders kümmern? Darauf will die Partei, darauf will Katrin Göring-Eckardt in ihrer Rede eine Antwort geben. Um die Bienen, um Kiebitze, um Zitronenfalter, sagt sie. Klar, wenn es gegen Monsanto und das umstrittene Pflanzengift Glyphosat geht, dann muss es auch um Insekten und Vögel gehen. Doch muss man in diesem Moment unweigerlich an den Bundesfraktionschef Anton Hofreiter denken. Der hatte zuvor angemahnt, dass Menschen, die sich vor dem sozialen Abstieg ängstigten, wenig Sinn für ökologische Belange hätten.

Göring-Eckardt betont denn auch die soziale Gerechtigkeit in Deutschland. Jedes fünfte Kind lebe hierzulande in Armut. Ihr Ansatz: Gutes wie bezahlbares Essen in Kitas, neue Schulen, funktionierende Hörsäle. Gleichermaßen wichtig sei, dass Frauen endlich gleichen Lohn für gleiche Arbeit bekommen; dass alleinerziehende Eltern nicht in die Armut abrutschen dürfen. Wie sie das möglich machen will: "Schluss mit der Steuerflucht vieler großer Konzerne."

Das hat dann wirklich wenig zu tun mit dem Vorwurf der Bundestagskandidatin Canan Bayram aus Friedrichshain-Kreuzberg. Sie hatte verlauten lassen, dass die beiden Realo-Spitzenkandidaten so manche in ihrem Wahlkreis an "Ortsvereinsvorsitzende der CDU" erinnern würden. Auch während ihrer Rede ist zu spüren, dass Göring-Eckardt im Berliner Velodrom kein Heimspiel hat. Grünen-Ikone Hans-Christian Ströbele musste nur auf der Bühne stehen, um schon stehende Ovationen zu bekommen. Und Katrin Göring-Eckardt? Erst als sie das Thema Flüchtlinge anschneidet, ist im Saal etwas von der Zuneigung zu spüren, die andere genießen können.

Wie also soll die Flüchtlingspolitik der Grünen aussehen? "Ich habe das mit dem Christentum bisher so verstanden, dass Nächstenliebe keine Obergrenze hat!", ruft Göring-Eckardt. Abschiebungen nach Afghanistan? Müssen endgültig gestoppt werden. Das Mittelmeer: Dürfe kein Massengrab werden, legale Fluchtwege seien nötig. Was das Einwanderungsland Deutschland brauche? Endlich ein Einwanderungsgesetz.

Nach einer guten Dreiviertelstunde landet Göring-Eckardt wieder bei Donald Trump. In Anlehnung an dessen Wahlspruch "America First" beschwört die Spitzenkandidatin, so emotional und kämpferisch wie selten, dass es in Deutschland künftig "Erde first! Weltoffenheit first! Gerechtigkeit first!" heißen müsse. Und das können die Grünen am besten durchsetzen, wenn sie am 24. September drittstärkste Kraft werden sollten. Und so mit breiter Brust in Koalitionsverhandlungen gehen könnten.

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