Katholische Kirche:"Sie kommen aus der Hölle"

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Der Missbrauch, den Josef Schmidt in der Kirche erlebt hat, liegt wie ein Schatten über seinem Leben. (Foto: Luca Bruno/dpa)

Geschätzt 216 000 Kinder und Jugendliche sind in Frankreich seit den Fünfzigerjahren von Priestern und Ordensleuten missbraucht worden. Das ist das Ergebnis einer Studie, die in der französischen Kirche wie eine Bombe einschlug.

Von Annette Zoch, München

In der katholischen Kirche Frankreichs sind seit den 1950er Jahren geschätzt 216 000 Kinder und Jugendliche von Priestern und Ordensleuten missbraucht worden. Rechnet man die Taten von Laien in Einrichtungen der Kirche mit ein, steigt diese Zahl sogar auf 330 000 Opfer. Das sagte Jean-Michel Sauvé, Präsident der Unabhängigen Kommission zur Untersuchung des sexuellen Missbrauchs in der Kirche (Ciase). Am Dienstag stellte Sauvé nach zweieinhalb Jahren Arbeit den 2500 Seiten umfassenden Untersuchungsbericht vor. Der Kinderschutz-Experte im Vatikan, Pater Hans Zollner, sagte der SZ, in anderen Ländern seien "ähnliche Zahlen zu erwarten".

"Sie kommen aus der Hölle zurück", sagte François Devaux, Gründer der Betroffenenorganisation "La Parole Liberée" (die befreite Stimme) an Sauvé und sein Team gerichtet. Noch vor der Präsentation der Studie durfte Devaux auf der Bühne eine Stellungnahme abgeben, und die fiel deutlich aus: "Meine Herren, Sie sind eine Schande für die Menschlichkeit. Sie müssen für jedes dieser Verbrechen bezahlen." Im Publikum saßen der Vorsitzende der französischen Bischofskonferenz, Erzbischof Éric de Moulins-Beaufort von Reims, der Apostolische Nuntius in Frankreich, Erzbischof Celestino Migliore, und Schwester Véronique Margron von der Konferenz der Ordensleute.

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Die Studie war in Frankreich mit großer Anspannung erwartet worden - sie sei "wie eine Bombe", die mitten in die Kirche hineingeworfen werde, hieß es vorab in französischen Medien. Die Trennung von Staat und Kirche steht zwar in der französischen Verfassung. Kulturell ist Frankreich dennoch eine der traditionsreichsten katholischen Nationen Europas. Erst vor Kurzem hatte der Fall Barbarin das Ansehen der Kirche schwer erschüttert: Der damalige Erzbischof von Lyon, Kardinal Philippe Barbarin, soll Missbrauchstaten des Priesters Bernard Preynat nicht angezeigt haben. Barbarin stand deshalb vor Gericht, wurde aber schließlich im Januar 2020 in der Berufung freigesprochen.

Der Regisseur François Ozon widmete sich der Vorgänge rund um Preynat in seinem Film "Grâce à Dieu" - "Gelobt sei Gott". Barbarin soll das ausgerufen haben, als ihm klar wurde, dass die Taten Preynats längst verjährt waren. Papst Franziskus hatte Barbarin unter Verweis auf die Unschuldsvermutung und die ausstehende Berufungsverhandlung zunächst eine Auszeit gewährt, sein Rücktrittsgesuch dann aber schlussendlich doch angenommen. Barbarin lebt seither zurückgezogen in der Bretagne.

"Tiefe, totale und grausame Indifferenz"

Im November 2018 beschlossen die französischen Bischöfe die Gründung der unabhängigen Ciase-Kommission - da lagen in Deutschland bereits die Ergebnisse der MHG-Studie vor. Während sich die MHG-Studie allerdings überwiegend auf die Personalakten der deutschen Diözesen stützte, befragte die Ciase-Kommission, darunter Juristen, Mediziner, Historiker und Theologen, auch Hunderte Zeugen. Die MHG-Studie identifizierte in den Akten damals 1670 Kleriker und 3677 Opfer. Sauvé sagte, bei der sehr hohen Opferzahl handele es sich nicht um aus Quellen verbürgte Zahlen, sondern um Hochrechnungen auf sexualwissenschaftlicher Basis. In Deutschland war eine Hochrechnung des Ulmer Psychiaters Jörg Fegert auf ein ähnlich großes Dunkelfeld gestoßen. Fegert geht mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit von 28 000 bis 280 000 Opfern aus.

In Deutschland begründeten die Erkenntnisse der MHG-Studie die Reformdebatte "Synodaler Weg". Auch Sauvé nennt nun systemische Faktoren, die den Missbrauch begünstigt hätten, darunter das kirchliche Prinzip des Gehorsams und die Ausnutzung von Charisma gegenüber Gläubigen sowie die katholische Sexualmoral. Bis Anfang der 2000er Jahre sei das Handeln der Kirche gegenüber den Betroffenen zudem von einer "tiefen, totalen und grausamen Indifferenz" gekennzeichnet gewesen, so Sauvé.

Als "beispielhaft" bezeichnete der Jesuitenpater und Psychologe Hans Zollner die Studie. Zollner leitet in Rom das Kinderschutzzentrum an der Päpstlichen Universität Gregoriana. Die strukturellen und moralischen Konsequenzen aus solchen Studien würden seit einigen Jahren klar benannt, so Zollner. Grundlage für Präventionsarbeit sei eine Aufarbeitung unter Einbeziehung von Betroffenen und ein anderer Umgang mit Macht. Und: "Rechenschaftspflicht und Verantwortungsübernahme durch Bischöfe und andere Amtsträger ist notwendig, auch wenn es sich nicht um persönliche Vergehen, sondern um die moralische Verantwortung für das Versagen der Institution insgesamt handelt."

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