Süddeutsche Zeitung

Katholische Kirche:Sechs Jahre für die Nummer drei

Das Strafmaß steht fest: Kardinal Pell, der frühere Finanzchef des Vatikans, muss wegen Missbrauchs in Haft.

Von Oliver Meiler, Rom

Siebzig Minuten waren vorbei, live übertragen im Fernsehen, als Richter Peter Kidd am County Court von Victoria in Australien diesen letzten Satz sagte: "Wenn Kardinal Pell jetzt bitte hinausgeführt werden könnte." George Pell war bisher regungslos geblieben, nun verneigte er sich kurz vor dem Richter und wurde durch einen Seitenausgang weggebracht. Vor dem Gericht warteten Gegner und Fürsprecher des Kirchenmannes. Auf der Zeichnung eines Protestplakats sah man Pell mit Teufelshörnern.

Der 77-jährige Australier, als Schatzmeister des Vatikans bis vor Kurzem so etwas wie die Nummer drei der katholischen Kirche, muss für sechs Jahre ins Gefängnis. 1996, als er Erzbischof von Melbourne war, soll er zwei Chorknaben, damals dreizehn Jahre alt, in der Sakristei der Kathedrale sexuell missbraucht haben. Zu dem Strafmaß kam das Gericht, nachdem Geschworene den angeklagten Kardinal bereits im vergangenen Dezember verurteilt hatten. Im Höchstfall wären fünfzig Jahre Haft möglich gewesen: je zehn pro Anklagepunkt. Doch Richter Kidd nahm unter anderem Rücksicht auf das Alter und die Gesundheitsprobleme des Mannes. Erst nach drei Jahren und acht Monaten könnte Pell frühzeitig freikommen, wenn es bei diesem Urteil aus erster Instanz bleibt.

Während der Verkündigung sprach der Richter deutlich aus, was er vom Verhalten des Geistlichen bei der Tat hält. Kidd nannte es "atemberaubend arrogant", "gefühllos" und "brutal". Die Kinder hätten geweint, als der Erzbischof sie missbraucht habe. Doch Pell habe einfach weitergemacht und sie aufgefordert zu schweigen. Von den beiden Opfern, die Kidd nur "J." und "R." nannte, lebt nur noch "J.". "R." starb vor fünf Jahren an einer Überdosis Heroin. Er gehe davon aus, sagte der Richter, dass die Folgen, die "J." von der Tat davongetragen habe, nämlich ständige Angst und Vertrauensprobleme, ähnliche seien, an denen auch "R." gelitten habe.

Pell beteuert seine Unschuld. Im Juni findet die erste Anhörung zu seinem Berufungsverfahren statt

Kidd räumte ein, dass der Fall eine "unglaubliche Öffentlichkeit" erfahren habe. Gewisse Kreise hätten Pell öffentlich verleumdet, er sei auch Opfer einer "Hexenjagd" und "Lynchjustiz" geworden. In diesem Prozess sei es nicht um die katholische Kirche gegangen, Pell sei kein "Sündenbock". Das Urteil beziehe sich allein auf das Verbrechen. Kritiker werfen Kidd vor, er habe selbst zum "Sensationalismus" beigetragen, indem er den Gerichtssaal für eine Direktübertragung öffnete.

Als Pell hinausgeführt wurde, wusste er noch nicht, wo er seine Haft absitzen muss. Wahrscheinlich wird es ein Hochsicherheitsgefängnis sein: Auch in Australien werden überführte Pädophile von Mithäftlingen in der Regel besonders rabiat empfangen. Unklar war zunächst auch, ob seine Anwälte versuchen würden, ihren Mandanten vorläufig gegen Kaution freizubekommen - bis zur ersten Anhörung im Berufungsverfahren. Die soll am kommenden 5. und 6. Juni stattfinden. Pell beteuert seit Beginn des Verfahrens seine Unschuld.

An diese Unschuld klammert sich auch der Vatikan. Pells Verurteilung ist der bisher schwierigste Moment in der Missbrauchskrise und im nunmehr sechs Jahre alten Pontifikat von Franziskus. Pell ist der höchste Prälat der katholischen Kirche, der je wegen eines solchen Vergehens ins Gefängnis musste. Er war Mitglied des Kardinalrats, des K9, mit dem Franziskus die Kirche reformieren wollte. Dem groß gewachsenen Australier fiel die Aufgabe zu, die vatikanischen Finanzen neu zu ordnen. Pell sollte aufräumen. Er schien dafür die Idealbesetzung zu sein.

Als bekannt wurde, dass in der Heimat wegen Missbrauchs an Kindern gegen ihn ermittelt werde, beurlaubte Franziskus seinen Finanzminister. Damit dieser sich verteidigen könne, hieß es. Das war im Juni 2017. Pell verzichtete auf seine diplomatische Immunität und reiste nach Australien. Fast zwei Jahre lang lag das Amt auf Eis. Im Dezember dann, als die Geschworenen den Kardinal schuldig gesprochen hatten, entfernte der Papst Pell aus dem K9. Das Amt als Finanzchef verlor er definitiv erst drei Monate später, nachdem die Berichtssperre der australischen Justiz aufgehoben wurde - mit einem Tweet des vatikanischen Sprechers: "Ich kann bestätigen, dass Kardinal George Pell nicht mehr Präfekt des Wirtschaftssekretariats ist."

Am Heiligen Stuhl finden noch immer viele, der Fall Pell sei eine fein orchestrierte Attacke gegen das Pontifikat Bergoglios und dessen Reformen. Auch der Papst selbst hält diese These offenbar für plausibel. Bei seiner Abschlussrede nach dem Kinderschutzgipfel im Vatikan im Februar warf er den Medien vor, sie ließen sich bei der Berichterstattung über Missbrauchsfällen instrumentalisieren. Die Kirche aber müsse sich über "alle ideologischen Polemiken und journalistischen Kalküle" erheben, sagte Franziskus.

Unterdessen eröffnete der Vatikan nun seinerseits eine Ermittlung gegen Pell, die in einem Prozess nach Kirchenrecht enden könnte. Zuständig ist die Glaubenskongregation. Solange dieser Prozess nicht abgeschlossen ist, und solange auch das zivile Verfahren in Australien nicht alle Instanzen durchlaufen hat, wird sich der Vatikan wohl an die Unschuldsvermutung halten. Pell bleibt also bis auf Weiteres Kardinal, auch im Gefängnis.

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SZ vom 14.03.2019
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