Katholische Kirche:Gutachter werfen Papst Benedikt XVI. Fehlverhalten in vier Missbrauchsfällen vor

Die Untersuchung sexualisierter Übergriffe nennt mindestens 497 Opfer zwischen 1945 und 2019. Sie umfasst auch die Amtszeit des Kardinals Ratzinger als Erzbischof in München - und wirft ihm falsche Angaben in einem besonders gravierenden Fall vor.

Von Jens Schneider, München

Ein umfangreiches Gutachten zum Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Erzdiözese München und Freising belastet den emeritierten Papst Benedikt XVI. schwer. Das im Auftrag der Erzdiözese von der Münchner Rechtsanwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) erstellte Gutachten sieht ein Fehlverhalten auf Seiten Benedikts in vier Missbrauchsfällen. Dem Gutachten zufolge hat der emeritierte Papst in seiner Zeit als Erzbischof in München Fälle von Missbrauch verharmlost oder abgestritten. Zugleich kommen die Gutachter zu dem Schluss, dass Ratzinger zur Frage seiner Verantwortung in einem besonders gravierenden Fall falsche Angaben gemacht haben dürfte. "Wir halten die Angaben des Papstes Benedikt für wenig glaubwürdig", sagte der Gutachter Ulrich Wastl bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Gutachtens.

Auch der aktuelle Erzbischof Kardinal Reinhard Marx hat dem im Auftrag der Erzdiözese erstellten Gutachten zufolge in zwei Missbrauchsfällen Fehlverhalten gezeigt. Erzbischof Marx war ausdrücklich zu der Präsentation des Gutachtens eingeladen worden, hat ein Erscheinen aber den Anwälten zufolge abgelehnt. Am Nachmittag nahm er Stellung zu dem Gutachten. Marx wandte sich in seinem Statement ausdrücklich als erstes an die Opfer. "Ich bin erschüttert und beschämt", sagte der Kardinal. "Als der amtierende Erzbischof bitte ich im Namen der Erzdiözese um Entschuldigung für das Leid, das Menschen im Raum der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten zugefügt wurde." Das Gutachten werde nun gründlich gelesen, um daraus Schlüsse zu ziehen. Dabei solle die Perspektive der Betroffenen im Mittelpunkt stehen.

"Die Missbrauchskrise ist und bleibt eine tiefe Erschütterung für die Kirche", sagte der Erzbischof weiter. Es sei seit 2010 schon vieles geändert worden, "und damit sind wir längst nicht am Ende". Die Erzdiözese werde weitere Veränderungen beraten und umsetzen. Es gehe um die Aufarbeitung von falschen Machtstrukturen und Haltungen. "Aber es geht um mehr", so Marx. "Es geht um die Erneuerung der Kirche."

Die fünf Gutachter haben seit Anfang 2020 Fälle sexuellem Missbrauchs durch Kleriker sowie hauptamtliche Bedienstete im Zeitraum 1945 bis 2019 und den Umgang damit im Erzbistum untersucht. Sie gehen von mindestens 497 Geschädigten im untersuchten Zeitraum aus. Zudem müsse eine hohe Dunkelziffer vermutet werden. Sie sprechen von 67 tatsächlichen oder mutmaßlichen Missbrauchstätern. Die Opfer seien überwiegend männliche Kinder und Jugendliche gewesen.

Festgestellt wird in dem Gutachten, dass die Kirche und ihre Spitze das Leid der Opfer lange nicht sehen wollten, sondern stattdessen "in ihnen eine Gefahr für die Institution sah". Die Gutachter sprechen von einer "vollständigen Nichtwahrnehmung der Opfer" angesichts von massiven Vorwürfen. Von einem "Bild des Schreckens" sprach der Gutachter Ulrich Wastl.

"Zu beleuchten ist das erschreckende Phänomen der Vertuschung", sagte die Gutachterin Marion Westpfahl zu Beginn der Vorstellung des Gutachtens. Es gehe heute angesichts der Fakten nicht mehr darum, Grunderkenntnisse zu gewinnen, sondern um unerlässliche Konsequenzen. "Es geht auch und insbesondere um individuelle Schuld", sagte Westpfahl.

Das Gutachten betrifft dabei auch die Amtsführung des emeritierten Papstes Benedikt XVI. als Erzbischof: Kardinal Joseph Ratzinger war von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising. In dieser Zeit kam es zu einem der gravierendsten Missbrauchsfälle im Bereich des Erzbistums. Ratzinger hat sich selbst umfangreich in einer 82 Seiten langen Stellungnahme geäußert, die im Rahmen des Gutachtens veröffentlicht wird, und nach Einschätzung der Gutachter damit einen authentischen Einblick gegeben.

Ratzingers Aussage sei "wenig glaubwürdig", so die Gutachter

Das Verhalten Joseph Ratzingers in seiner Zeit als Kardinal sei überprüft worden und müsse neu bewertet werden, sagte die Gutachterin Marion Westpfahl zum Auftakt der Pressekonferenz.

Strittig ist, wie viel Ratzinger von dem besonders gravierenden Fall gewusst hat und ob er in den Umgang damit involviert war: Der Priester Peter H. war seinerzeit von Essen nach München versetzt worden, nachdem er dort bereits in seiner Heimatdiözese Kinder missbraucht hatte. Er wurde zu Therapiezwecken ins Erzbistum München geschickt, wo er erneut Übergriffe beging und auch strafrechtlich verurteilt wurde. Die Verantwortung für den Einsatz des Priesters trotz seiner Vorgeschichte übernahm seinerzeit allein der damalige Generalvikar Gerhard Gruber. Er hat nun gegenüber den Gutachtern erklärt, dass er dazu gedrängt worden sei, die Verantwortung für diese Entscheidung zu übernehmen. Die Süddeutsche Zeitung hatte den Fall Anfang 2010 enthüllt, der Vatikan hatte damals empört auf die Berichterstattung reagiert und von einem Angriff auf den Papst gesprochen.

Der emeritierte Papst Benedikt erklärt in einer Stellungnahme, dass er bei der Sitzung am 15. Januar 1980 nicht dabei gewesen sei, als über den Einsatz des einschlägig vorbelasteten Priesters beraten wurde. Diese Aussage ist nach Einschätzung der Gutachter "wenig glaubwürdig". Der Gutachter Wastl zitierte während der Pressekonferenz aus dem Protokoll der damaligen Ordinariatssitzung. Demzufolge hatte Kardinal Ratzinger in ebendieser Sitzung von einer Trauerfeier und einem Gespräch des damaligen Papstes Johannes Paul II. mit deutschen Bischöfen berichtet - was nicht mit seiner Darstellung übereinstimmen würde, dass er nicht dabei gewesen sei.

Die Anwälte bedauern Marx' Fernbleiben "außerordentlich"

Die Gutachter kritisierten, dass der derzeitige Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, sich gegen eine Teilnahme an der Vorstellung des Gutachtens entschieden hat. "Wir bedauern sein Fernbleiben außerordentlich", sagte Marion Westpfahl.

Der Münchner Generalvikar Christoph Klingan hat sich nach der Vorstellung des Gutachtens zu sexuellem Missbrauch im katholischen Erzbistum München und Freising "bewegt und beschämt" gezeigt. "Meine Gedanken sind in dieser Stunde zunächst bei den Betroffenen, bei den Menschen, die durch Mitarbeiter der Kirche in der Kirche schweres Leid erfahren haben", sagte er am Donnerstag in München. "Den Betroffenen muss unser erstes Augenmerk gelten."

Die Staatsanwaltschaft München I ist auf Grundlage der Recherchen der Kanzlei WSW bereits aktiv geworden. Im August vergangenen Jahres habe sie von der Kanzlei WSW Material über 41 Fälle zur Verfügung gestellt bekommen, in denen aus Sicht der Gutachter ein Fehlverhalten kirchlicher Verantwortungsträger gegeben sei. Das erklärte die Staatsanwaltschaft auf Anfrage der SZ. Ein weiterer Fall sei im November dazugekommen. Unter den 42 Fällen sei auch der Fall des Priesters Peter H. "Die 42 Fälle betreffen ausschließlich noch lebende kirchliche Verantwortungsträger und wurden stark anonymisiert übermittelt", erklärte die Staatsanwaltschaft. Sollten sich auf dieser Basis Verdachtsmomente dafür ergeben, dass sich kirchliche Verantwortungsträger strafbar gemacht hätten, würden gesonderte Vorermittlungsverfahren eingeleitet.

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