Katholische Kirche:"Wir wissen, dass wir bluten müssen"

Stefan Kiechle, der neue Provinzial der Jesuiten, spricht über sexuellen Missbrauch, Schuld und Sühne - und erklärt, warum seine Ordensbrüder nun selbst für Entschädigungen der Opfer bezahlen wollen.

Matthias Drobinski

Er hat ein schweres Amt übernommen. Seit dem 1. September ist Stefan Kiechle Provinzial der deutschen Jesuiten. Sein Orden ist Träger des Berliner Canisiuskollegs; dort war im Januar bekannt geworden, dass Patres in den achtziger Jahren Schülern systematisch sexuelle Gewalt antaten. Nun wollen die Jesuiten als erste Ordensbrüder den Opfern eine Entschädigungsregelung anbieten.

Canisius-Kolleg in Berlin

In den achtziger Jahren wurden Schüler im Canisiuskolleg systematisch missbraucht.

(Foto: dpa)

SZ: Ein Missbrauchsopfer hat einmal über die Jesuiten gesagt: "Sie müssen bluten". Denn auch Ihrem Orden gehörten Täter an. Wollen Sie nun "bluten"?

Kiechle: Wenn Sie so wollen: Ja, wir wissen, dass wir bluten müssen. Wir wollen die Opfer entschädigen. Es ist für sie ganz wichtig, dass wir uns nicht nur entschuldigen, dass wir nicht nur endlich ihren Geschichten glauben, sondern dass wir auch materiell ein Zeichen setzen. Das wird uns weh tun, aber wir müssen nicht nur Schuld bekennen, sondern auch Genugtuung leisten.

SZ: Denn ohne Sühne kann die Schuld nicht vergeben werden.

Kiechle: Wir haben in der Kirche nicht mehr gerne von der Sühne gesprochen, zu sehr hat man früher damit einen rachsüchtigen Gott verbunden, der ein blutiges Opfer verlangt. Der "liebe" Gott ist uns lieber, der Böses einfach wegwischt. Aber es ist ja Böses geschehen - Täter haben Opfern schweres Leid zugefügt, und die Opfer haben über Jahrzehnte gelitten. Eine Theologie, die Schuld und Sühne ausklammert, nimmt die Freiheit und die Verantwortung des Menschen nicht ernst. Vielleicht war dieses falsche Verständnis vom "lieben" Gott einer der Gründe, weshalb die Übergriffe so lange zugedeckt blieben.

SZ: Man tut sich in der Kirche nicht weh, auch wenn es nötig wäre.

Kiechle: Das ist eine bittere Ironie an der Geschichte: Die Opfer, von denen sich viele von der Kirche abgewendet haben, erinnern uns an unser eigenes Thema, an Schuld und Sühne. Das Böse schlägt auf seinen Urheber zurück, und dessen Reue ist nur wirkungsvoll, wenn er mit dem Leidenden mitleidet. Das ist der tiefere Sinn der Zahlungen.

SZ: Wer soll wie viel Geld bekommen?

Kiechle: Zunächst sind die Täter in der Pflicht. Aber die sind manchmal uneinsichtig, abgetaucht, krank, tot - und dann müssen wir als Orden dort stellvertretend Verantwortung übernehmen, wo Übergriffe glaubhaft gemacht werden, aber nicht mehr justiziabel sind. Der Orden ist ja selber auch schuldig geworden. Eine unabhängige Stelle soll entscheiden, wer Geld bekommen kann. Die österreichische Bischofskonferenz hat ein Stufenmodell entwickelt, bei dem Opfer zwischen 5000 und 25.000 Euro erhalten sollen. Wir werden uns wohl gegen ein solches Modell entscheiden, weil wir nicht die Verletzungen, die entstanden sind, graduell bewerten wollen. Wir denken an eine Summe im vierstelligen Bereich.

SZ: Das klingt nach den 5000 Euro, die die österreichischen Bischöfe als Mindest-Entschädigung angeboten haben.

Kiechle: Das wird diskutiert, aber wir haben uns noch nicht entschieden.

SZ: Vielen Opfern ist das zu wenig.

Kiechle: Da wird es Enttäuschungen geben, aber ich fürchte, das können wir nicht vermeiden. Ich finde es aber auch richtig, dass wir einen eher symbolischen Betrag zahlen. Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, Geld könnte ungeschehen machen, was den Opfern der sexuellen Gewalt widerfahren ist. So gesehen könnte ein großer Batzen Geld auch sehr billig sein: Wir kaufen uns frei, und alles ist wieder gut. Symbolisch heißt: Die Geste, die wir anbieten, ist für uns schmerzhaft. Aber sie bleibt klein und bruchstückhaft, ist ein Zeichen unserer Ohnmacht angesichts des Leids.

SZ: Heißt das nicht doch wieder: Mammon ist schnöde, deshalb ist auch eine finanzielle Entschädigung schnöde?

Kiechle: Nein. Geld ist auch eine Möglichkeit, Anerkennung und Respekt auszudrücken. Die symbolische Entschädigung, die wir anstreben, ist zugleich weniger und mehr als ein Schmerzensgeld: Die Summe ist geringer, das Zeichen möglicherweise aber nachhaltiger. Deswegen wollen wir auch nicht, dass die Summe aus einem anonymen Topf gezahlt wird. Es soll klar sein, dass das Geld von uns kommt.

SZ: Wie viele Opfer werden Sie entschädigen?

Kiechle: 200 ehemalige Schüler haben sich bei uns gemeldet und gesagt, dass ihnen sexuelle Gewalt angetan wurde, dass Grenzen verletzt wurden. Wie viele von ihnen auch eine Entschädigung wollen, wissen wir nicht.

SZ: Wenn nur jeder Zweite dieser Opfer jeweils 5000 Euro bekommt, zahlen Sie eine halbe Million Euro. Woher soll das Geld kommen?

Kiechle: Ja, das ist viel Geld für uns. Wir wollen es nicht aus der Spendenkasse nehmen, wir wollen auch keines unserer Sozial- und Seelsorgeprojekte belasten. Wir werden uns in unserem Lebensstil einschränken müssen. Das ist mit der Gemeinschaft abgesprochen, die Brüder sind zum Verzicht bereit. Ja, Sühne tut weh, das muss sie auch, sonst verraten wir unseren Auftrag, an der Seite der Opfer zu sein.

SZ: Auch bei manchen Bischöfen wird der Vorstoß der Jesuiten nicht gut ankommen. Dort werden Sie den Vorwurf hören, dass Sie die Verhandlungsposition der katholischen Kirche beim Runden Tisch gegen Missbrauch und gegenüber den Opferorganisationen schwächen.

Kiechle: Es mag sein, dass es solche Stimmen geben wird. Ob sie von Bischöfen kommen, weiß ich nicht. Wir reden ja miteinander über die Entschädigungsfrage, wir tun ja auch nichts an der Bischofskonferenz vorbei oder gar gegen die Bischöfe. Aber wir sehen, dass wir Jesuiten jetzt ein Zeichen setzen müssen, damit es um der Opfer willen voran geht. Da darf es nicht um Taktik oder Kosten gehen. Es ist eine Frage unserer Wahrhaftigkeit und unseres Selbstverständnisses.

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