Süddeutsche Zeitung

Katholikentag in Stuttgart:Im Zeichen des fünften Gebots

Du sollst nicht töten? Der Ukraine-Krieg dominiert die Debatten auf dem Katholikentag in Stuttgart. Kanzler Scholz betont, Putin müsse gestoppt werden.

Von Annette Zoch, Stuttgart

"Scholz, gib Waffen, schwere Waffen jetzt!", skandieren die ukrainischen Demonstrantinnen, und "Slava Ukraini", "Ruhm der Ukraine", viele von ihnen tragen weiße Shirts mit roten Farbspritzern oder roten Handabdrücken. Zwischen ihnen am Boden stehen Kinderschuhe und Grablichter. Es sind überwiegend Frauen, um die 200, viele mit Kindern, die vor der Liederhalle in Stuttgart demonstrieren. Drinnen spricht währenddessen Bundeskanzler Olaf Scholz auf einem Podium des Katholikentags, über "Zeitenwende und Zusammenhalt, Gesellschaft und Politik in unsicheren Zeiten". Der Krieg in der Ukraine ist an diesem Freitag das prägende politische Thema des 102. Katholikentags und die Frauen vor der Liederhalle geben ihm ein Gesicht.

Später werden die Demonstrantinnen mit einer riesigen ukrainischen Flagge in ihrer Mitte durch die Innenstadt von Stuttgart ziehen, bis zum Oberen Schlossgarten, wo ihre lauten Rufe die andächtige Stille des offiziellen Friedensgebets für die Ukraine zerreißen. Auf der Bühne berichtet Inna Wjzelewa aus Butscha, wie sie sich mit ihrer 14-jährigen Tochter erst tagelang im Keller verschanzte, wie sie schließlich floh, immer in der Angst, erschossen zu werden. "Jetzt will ich, dass die ganze Welt hört und sieht, was dort geschieht", sagt Wjzelewa. "Denn mit Waffen hätte man die Toten von Butscha verhindern können." Am Ende stehen sie, ihre Tochter und die ukrainische Dolmetscherin auf der Bühne in enger Umarmung und weinen. "Wir teilen ihre Trauer", sagt ZdK-Präsidentin Irme Stetter-Karp. Auch ihr bricht die Stimme.

Zeitenwende. Es sei "das passende Wort für die Gegenwart", sagt Bundeskanzler Scholz. Wer hätte sich 2018 beim vergangenen Katholikentag in Münster noch vorstellen können, dass vier Jahre später auf dem europäischen Kontinent Krieg herrscht, dass auf einem Katholikentag über Waffenlieferungen diskutiert wird? "Wir haben uns entschieden, dem Opfer dieses Angriffskriegs beizuspringen", sagt Scholz. "Putin darf mit seinem zynischen, menschenverachtenden Krieg nicht durchkommen." Sein Krieg richte sich gegen eine Friedensordnung, die aus dem Bekenntnis "Nie wieder" nach zwei verheerenden Weltkriegen entstanden sei. "Er will zurück zum Recht des Stärkeren." Das dürfe auf keinen Fall zugelassen werden.

Die wirklich schmerzhaften Fragen werden auf diesem Podium allerdings ausgespart: Wie vertragen sich Waffenlieferungen für Christen mit dem fünften Gebot, du sollst nicht töten? Nur einmal wird Scholz gefragt, ob für die Sicherheit wirklich so viele Waffen nötig seien? "Ja", antwortet Scholz trocken. Und erläutert, dass mit dem geplanten Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr im großen Umfang etwa Munition gekauft oder in sichere Kommunikationsverbindungen investiert werden müsse. ZdK-Präsidentin Stetter-Karp wird ebenfalls gefragt, wie sie dazu stehe: "Es ist für uns eine ernste Frage und da lasse ich es im Moment mal", sagt sie.

Kiewer Bischof: "Man kann mit dem Bösen keinen Dialog führen"

Auf einem anderen Podium berichtet der katholische Bischof Stefan Sus aus Kiew von einem Dorf im Norden der Ukraine, das mehrere Wochen von Russen besetzt war. Am Ende sagt der Bischof: "Man kann mit dem Bösen keinen Dialog führen, man muss es vernichten. Andernfalls wird dieses Böse bald auch zu Ihnen kommen." Der langjährige ukrainische Caritas-Direktor Andrij Waskowycz findet ebenfalls drastische Worte: "Das beste Mittel, um die schreckliche humanitäre Krise in der Ukraine zu bekämpfen, sind erstens Waffen, zweitens Waffen und drittens Waffen." Bischof Bohdan Dzyurakh, Exarch der katholischen Ukrainer des byzantinischen Ritus in Deutschland, mahnt aber auch Versöhnung an, "damit die Herzen nicht von Hass und Rachegefühlen überwältigt werden".

Die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Margot Käßmann, bekräftigt auf dem Katholikentag ihre ablehnende Haltung zu Waffenlieferungen. Der Ukraine-Krieg markiere für sie keine "Zeitenwende", nur weil die Kämpfe nun näher an Deutschland herangerückt seien. Seit elf Jahren tobe der Krieg in Syrien, seit sieben Jahren im Jemen. "Noch mehr Waffen haben nicht mehr Frieden gebracht."

Zeitwende, das passt aber auch auf anderen Ebenen. Die Corona-Pandemie ist noch nicht vorbei. Das Kirchenfest in Stuttgart ist der erste Katholikentag nach zwei Jahren erzwungener Isolation, ein Testlauf: Funktionieren solche Großveranstaltungen überhaupt noch? Während das Bild rund um den Schlossgarten und direkt in der Innenstadt durchaus an vergangene Kirchentage erinnerte - ein buntes Getümmel aus Menschen mit bunten Schals, Ordensleuten, Priestern - sah es an weiter abgelegenen Plätzen schon anders aus. Da besuchten sich die Standbesitzer am Ende gegenseitig.

Es ist zudem ein Katholikentag mitten in einer tiefen Krise der Kirche, in einer Zeit der abnehmenden Kirchenbindung. Mit Verwunderung und Sorge wurde registriert, dass aus der ersten Reihe der CDU kaum ein Politiker anwesend war. Olaf Scholz ist der erste konfessionslose Bundeskanzler in der Geschichte der Bundesrepublik. Auf die Frage, welche Werte ihn leiteten, antwortet er unbestimmt: "Ich bin sehr geprägt von der Ethik, die uns alle über Jahrhunderte geprägt hat." Er dankt den Christinnen und Christen für ihr Engagement während der Corona-Pandemie und für die Geflüchteten. Was die Politik von der Kirche erwarte, wird er dann noch gefragt. "Der Staat hat da nichts zu erwarten", sagt Scholz. "Aber er kann gründen in dem, was all die Engagierten in der Kirche für die Zivilgesellschaft tun."

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