Wieder wehen Tausende Fahnen der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung in der Innenstadt von Barcelona. Vier rote Streifen auf gelbem Grund mit dem weißen Stern im blauen Dreieck. Stern und Dreieck wurden von den Freiheitsbewegungen in Kuba und Puerto Rico übernommen, die Ende des 19. Jahrhunderts gegen die spanische Kolonialherrschaft kämpften. Viele Katalanen wollen es ihnen gleichtun. Sie wollen sich mit aller Kraft auflehnen gegen Madrid.
Wohl weit mehr als 100 000 sind aus allen Ecken Kataloniens angereist, bei sommerlichen Temperaturen von 25 Grad. Die Stadtpolizei gibt die Zahl der Demonstranten mit 400 000 an, doch sie untersteht Politikern, die an der Kundgebung teilgenommen haben. Im Propagandakrieg um Katalonien operieren beide Seiten mit übertriebenen Zahlen, die einer unabhängigen Prüfung nicht standhalten.
Katalanische Unabhängigkeitsbewegung:Puigdemont marschiert an der Spitze der Demonstranten
Aus allen Ecken Kataloniens kommen Unabhängigkeits-Befürworter nach Barcelona, um sich gegen die Zentralregierung in Madrid aufzulehnen. Der Regionalpräsident spricht am Abend in einer TV-Ansprache von einem "Angriff auf die Demokratie", sagt aber nicht konkret, wie er weiter vorgehen will.
Anlass für die Kundgebung ist eigentlich die Verhaftung der beiden Vorsitzenden von zwei Verbänden, die Hand in Hand für die Gründung der unabhängigen Republik Katalonien kämpfen. Doch der wahre Grund liegt für die meisten Teilnehmer wohl in der Entscheidung, die am Samstagvormittag in Madrid gefallen ist: Die spanische Regierung unter Mariano Rajoy kündigte an, die katalanische Führung wegen Verfassungsbruchs abzusetzen. Somit wird zum ersten Mal in der Geschichte der jungen spanischen Demokratie der Artikel 155 der Verfassung angewandt, der die Aussetzung der autonomen Rechte einer Region erlaubt, falls deren Führung "zum Schaden Spaniens" handelt.
Der Regionalpräsident Carles Puigdemont hat sich nämlich nicht dazu erklärt, ob seine Regierung weiterhin die Sezession vom Königreich Spanien anstrebt. Rajoy hatte ihn ultimativ dazu aufgefordert. Gemeinsam mit Mitgliedern seines Kabinetts und führenden Parlamentariern führt Puigdemont den Protestmarsch über die Gracia-Passage an, einer Prachtstraße im Zentrum Barcelonas. Dabei ist auch Carme Forcadell, die streitbare Parlamentspräsidentin. Sie sagt zu den Plänen Madrids: "Das lassen wir nicht zu!" Es handle sich um einen Staatsstreich.
Doch wie die Verfechter der Unabhängigkeit in Barcelona ihre Entmachtung abwenden wollen, verrät sie nicht. Falls sie an weitere Massenkundgebungen denkt, so dürfte dies Rajoy wenig beeindrucken. Schon vor fünf Jahren, auf dem Höhepunkt der spanischen Wirtschaftskrise, ließ er sich von den Protesten gegen sein Sparprogramm nicht im Geringsten beirren.
Im Moncloa-Palast, seinem Amtssitz am Rande Madrids, wo am Samstag kühles, regnerisches Wetter herrscht, erläutert er wenige Stunden vor der Kundgebung von Barcelona die geplanten Maßnahmen: Das spanische Finanzministerium übernimmt die vollständige Kontrolle über den Zahlungsverkehr der Region, das Innenministerium über die katalanische Regionalpolizei. Gegen deren Führung haben die Staatsanwälte "wegen passiver Unterstützung eines versuchten Staatsstreichs" ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Denn wohl die meisten Polizisten sind am 1. Oktober nicht gegen die Aktivisten des katalanischen Unabhängigkeitsreferendums eingeschritten, obwohl das Verfassungsgericht dieses für illegal erklärt hatte. Diesen Auftrag übernahm dann die nationale Polizei, Bilder von prügelnden Polizisten gingen um die Welt.
Rajoy stellt klar, dass das katalanische Parlament nicht aufgelöst werde. Doch ist offen, ob die Vorsitzende Forcadell ihren Posten behalten kann. Sie gehört zu den führenden Köpfen der Unabhängigkeitsbewegung. Die Opposition in Barcelona, die mit Rajoy an einem Strang zieht, wirft ihr zahlreiche Verstöße gegen die eigene Geschäftsordnung vor, diese hätten sich insbesondere bei der Verabschiedung des Gesetzes über das katalanische Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober zugetragen. Die Staatsanwaltschaft hat sie bereits vorgeladen, ihr wird Anstiftung zum Verfassungsbruch vorgeworfen.
Der spanische Ministerpräsident betont auch, dass die Abgeordneten in Barcelona nicht befugt seien, eine neue Regierung zu bestimmen. Erst recht dürften sie keine weiteren Maßnahmen beschließen, die auf die Sezession von Spanien abzielen. Vermutlich Mitte Januar sollen die Katalanen ein neues Parlament wählen. Bis dahin hat die Zentralregierung in Madrid die Bürger in der Region zu zivilem Ungehorsm gegen die örtlichen Behörden aufgerufen. Er hoffe, die Katalanen ignorierten alle denkbaren Anweisungen der Regionalregierung, sagte Außenminister Alfonso Dastis am Sonntag der BBC.
Die Regierung in Madrid hatte in der vergangenen Woche Puigdemont vorgezogene Regionalwahlen vorgeschlagen. Sie wären ein Ausweg aus der Krise, bei dem beide Seiten das Gesicht wahren könnten. Doch Kataloniens Regionalpräsident wies den Vorschlag zurück und bekräftigte seine Position. Er wolle nur über eine friedliche Sezession verhandeln. Dies ist wiederum für Rajoy völlig inakzeptabel, da die spanische Verfassung die Abspaltung einer Region verbietet.
Die Zahlen des Referendums aber liefern Madrid ein willkommenes Argument: Da es illegal war, hätten die Gegner der katalanischen Unabhängigkeit daran nicht teilgenommen. Die Zahl von 90 Prozent habe also nicht den geringsten Aussagewert, ganz abgesehen davon, dass die Wahlkommission unter Verletzung der katalanischen Gesetze berufen worden sei.
Nach der Argumentation Madrids unterstützen weniger als 40 Prozent der Bürger Kataloniens aktiv die Unabhängigkeit. Dieselbe Größenordnung ergaben die Regionalwahlen 2015, bei denen die Gruppierungen, die kompromisslos für die Sezession eintreten, bei einer Beteiligung von 77 Prozent lediglich knapp 48 Prozent der Stimmen auf sich vereinigten.
Diese Zahlen sind auch den Politikern in Brüssel und den Regierungen der anderen EU-Staaten bekannt. Auf dem EU-Gipfel haben sie am Freitag Rajoy demonstrativ den Rücken gestärkt, allerdings nicht ohne einen Dialog mit den Katalanen anzumahnen.
Dass der spanische Premier diesen Dialog verweigert, zieht sich wie ein roter Faden durch eine auf Katalanisch gehaltene Fernsehansprache Puigdemonts am Samstagabend. Er betont, dass die Katalanen für die "europäischen Werte" stünden. Rajoy wirft er die schlimmste "Attacke auf die Demokratie" seit der Diktatur Francos vor. Auf Spanisch und Englisch fordert er die "Völker Europas" auf, die Katalanen im "Kampf für die Demokratie" zu unterstützen. Zur großen Enttäuschung von mehreren Hundert Demonstranten, die sich am Abend vor dem gotischen Regierungspalast in Barcelona eingefunden hatten, reagiert er aber nicht kämpferisch. Vielmehr kündigt er lediglich eine Parlamentsdebatte "über die neue Lage" an.