Süddeutsche Zeitung

Himalaja-Region:In Kaschmir regiert die Angst

  • Die Himalaja-Region Kaschmir wird vom benachbarten Pakistan genauso wie von Indien beansprucht.
  • Untergrundkämpfer lehnen sich gewaltsam gegen den indischen Staat auf.
  • Indien will den Eindruck befördern, dass in Kaschmir wieder Ruhe und Normalität einkehrt. Doch davon spüren die Menschen vor Ort wenig.

Von Arne Perras, Singapur

Auf diesen Moment hatte Sahil Tahir 73 Tage lang sehnlich gewartet. Seit dem 5. August waren die Menschen in Kaschmir alle stumm geschaltet, der Staat hatte die Telefone von acht Millionen Menschen blockiert, was einer der größten Kommunikationssperren in der indischen Geschichte gleichkam. Anfang der Woche schaltete der Staat die meisten mobilen Geräte in Kaschmir wieder frei, Tahir konnte es kaum fassen und verschickte eilig eine ganze Serie von SMS, um sein Geschäft wieder anzukurbeln. "Ohne Textnachrichten kann hier doch keiner arbeiten", sagt der 30 Jahre alte Unternehmer, der in Srinagar eine Druckerei betreibt. Die Erleichterung war groß - aber sie währte nur wenige Stunden. "Dann haben sie die SMS auch schon wieder gesperrt", sagt Tahir.

Was nach Fortschritt aussah, verwandelte sich blitzschnell wieder in einen Rückschlag. Der indische Staat, der Unruhen vorbeugen will, nachdem er Kaschmir überraschend die Autonomie entzogen hat, wagt es noch immer nicht, den Einheimischen ihre Freiheiten im Alltag zurückzugeben. Zu angespannt ist die Lage, obgleich Delhi den Eindruck erwecken möchte, dass nun wieder Normalität einkehre.

Normalität? Davon spürt Tahir wenig. Von den Zuständen in Srinagar könne er auch nur erzählen, wenn er seine Identität nicht preisgeben müsse, sagt der Mann am Telefon. Er heißt in Wahrheit anders. Geschäftsleute wie er haben in diesen Tagen vieles zu fürchten: Kritisieren sie offen die Regierung in Delhi oder beschweren sich darüber, dass ihnen der Zentralstaat die Autonomie entzogen hat, droht ihnen eine Haftstrafe. Versuchen sie, ihr Geschäft wieder in Gang zu bekommen, das durch den eisernen Griff des Staates gelitten hat, kann es passieren, dass sie Besuch von den "Militanten" bekommen. So heißen die Untergrundkämpfer, die sich mit Gewalt gegen den indischen Staat auflehnen. Delhi nennt sie "Terroristen".

Die gewaltbereiten Kräfte versuchen, durch Drohungen die Bevölkerung zum radikalen Boykott im Alltag zu zwingen und so den Plan Delhis zu durchkreuzen, Kaschmir nach den Vorstellungen der Zentralregierung zu entwickeln. Zwischen diesen beiden Fronten, den drakonischen Sicherheitskräften des Staates einerseits und den drohenden Milizen im Untergrund andererseits, verläuft der Alltag in den Tälern von Kaschmir.

Der Staat ist weiterhin entschlossen, jeden Protest im Keim zu ersticken

Viele Bewohner ersehnen zwar Eigenständigkeit, wenn möglich gar einen unabhängigen Staat, sie sind die Dauerfehde zwischen der indischen und pakistanischen Regierung um ihre Heimat leid. Aber das bedeutet nicht, dass sie alle die Gewalt der Milizen befürworten. Die politische Gemengelage ist kompliziert. Und für alle, die arbeiten wollen und müssen, ist es in diesen Tagen ganz schwer. "Wir müssen aufpassen, dass wir nicht zwischen den Fronten zerrieben werden", sagt Tahir. Diese Furcht packt nun auch jene Händler, die Äpfel außerhalb Kaschmirs verkaufen wollen, das Obst ist überall im Land gefragte Ware. Und es ist Erntezeit. Aber es herrscht nun Panik in der Branche, seitdem ein Lastwagenfahrer aus Punjab, der Obst geladen hatte, Montagnacht von einem Extremisten erschossen wurde. "Das war eine Hinrichtung, um Leute aus anderen Teilen Indiens abzuschrecken", sagt Tahir. "Und es ist auch eine Warnung an alle in Kaschmir, die jetzt wieder ihren Geschäften nachgehen wollen."

Tahir aber will sein Unternehmen nicht schließen, er könne sich das gar nicht leisten, sagt er. "Ich beschäftige zwölf Mitarbeiter und habe zehn Wochen lang nichts verdient, ich kann sie doch nicht einfach auf die Straße setzen." Außerdem hat er selbst Frau und zwei kleine Kinder zu Hause, für die er sorgen muss. "Auch wir können zum Ziel werden", sagt Tahir. Die Angst ist immer da. "Jeden kann es treffen." Meist kann man in den Geschäften Srinagars nur morgens einkaufen, am Nachmittag und Abend sind die Rollläden geschlossen.

Um den Eindruck zu befördern, dass in Kaschmir wieder Ruhe und Normalität einkehrt, hat Delhi auch das Verbot für Touristen aufgehoben, nach Kaschmir zu reisen. Grünes Licht also für Urlaub in den Bergen. "Aber wer wird das schon wagen", fragt Tahir, "wenn es hier keine Sicherheit gibt?" Für Tausende Kaschmirer, die von den Urlaubern leben, sind die Drohungen der Extremisten eine Katastrophe. Doch viele können auch im Vorgehen Delhis keine gute Zukunft für sich erkennen, weil die Zentralregierung die Kaschmirer nicht mal konsultiert hat, bevor sie die Autonomie der Region einkassierte.

Die hindu-nationalistische Regierung will in Kürze lokale Wahlen in Kaschmir abhalten, obwohl die meisten Politiker in Haft sind. "Es sieht so aus, als würden nun vor allem Leute antreten, die Delhi als Marionetten führen kann", sagt Tahir. Das aber sei kein Weg, um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Seit 70 Jahren schon kämpfen viele Kaschmirer mit der Ohnmacht, nicht über ihre eigene Zukunft entscheiden zu dürfen. Nach zwei Kriegen zwischen Pakistan und Indien ist das Berggebiet geteilt, und von Gesprächen sind die Atommächte weit entfernt.

Delhi hat zwar nun einige Beschränkungen im indisch-kontrollierten Teil Kaschmirs aufgehoben, die Bewegungsfreiheit ist größer, Minderjährige wurden aus der Haft entlassen, wie lokale Quellen bestätigen. Die Regierung macht über die mutmaßliche Haft von Kindern, die Steine auf indische Truppen werfen, keine Aussagen. Aber der Staat ist weiterhin entschlossen, jeden Protest im Keim zu ersticken. So geschah es auch am Dienstag im Zentrum von Srinagar, als 13 prominente Frauen auf der Straße ein "Sit-in" planten. In einer Erklärung prangerten sie die Abschaffung der autonomen Rechte an. "Wir fühlen uns verraten und erniedrigt", klagten sie. Unter ihnen waren die Schwester und die Tochter von Ex-Ministerpräsident Farooq Abdullah.

30 Stunden waren die Frauen in Haft, dann kamen sie wieder frei. "Sie forderten uns auf, dass wir eine Entschuldigung für unseren Protest unterschreiben", sagte die Aktivistin Muslim Jan. "Das haben wir verweigert." Es sieht nicht so aus, als wäre es ihr letzter Protest gewesen.

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Quelle:
SZ vom 18.10.2019
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