Kaschmir-Konflikt:Nukleare Zeitbombe

Der Kaschmir-Konflikt macht den atomaren Wettlauf zwischen Indien und Pakistan noch gefährlicher.

Arne Perras

(SZ vom 28.12.2001) - Indien besitzt ein größeres Atompotenzial als Großbritannien. Zu dieser Einschätzung kam das britische Militärfachblatt Jane's Intelligence Review schon Ende der neunziger Jahre.

Kaschmir-Konflikt: Die Truppenstärken Indiens und Pakistans. (Bitte auf das Bild klicken.)

Die Truppenstärken Indiens und Pakistans. (Bitte auf das Bild klicken.)

(Foto: Grafik: SZ)

Der Politologe Stephen Cohen von der Brookings Institution spricht von einem "einzigartigen nuklearen Dreieck", das sich in Asien aufgebaut hat - mit den Eckpunkten China, Indien und Pakistan.

Alle drei Nationen kontrollieren auch jeweils einen Teil der Himalaja-Region Kaschmir. Und die verschärfte Krise zwischen Delhi und Islamabad offenbart, dass der stellvertretende US-Außenminister Richard Armitage wohl richtig liegt, wenn er sagt: "Dies ist der gefährlichste Platz auf der Welt."

Seit Indien und Pakistan im Mai 1998 jeweils mehrere Atomtests durchführten, ist das Risiko offenkundig: Mit dem Streit um Kaschmir tickt eine nukleare Zeitbombe.

"Exakte Informationen, wie viele Atomsprengköpfe die Inder und die Pakistaner jeweils besitzen, gibt es aber nicht", sagt der Rüstungsexperte Otfried Nassauer vom "Berliner Informationszentrum für transatlantische Studien".

Die Schätzungen variieren, wobei zumindest deutlich wird, dass die Inder den Pakistanern nicht nur bei den konventionellen Streitkräften weit voraus sein dürften. Auch das atomare Arsenal Delhis übersteigt das des kleineren Nachbarn im Westen offenbar deutlich. Der Atomexperte David Albright vom Institute for Science and International Security in Washington hat Berechnungen vorgelegt, nach denen Indien über 65 Sprengköpfe verfügen könnte.

Pakistan käme danach immerhin auf 39. Andere Schätzungen fallen noch höher aus. Der Rüstungsexperte Paul Beaver spekulierte in der BBC, dass Indien das Potenzial für 250 Sprengköpfe haben und Pakistan bis zu 150 Atomwaffen bauen könnte.

Von einer militärischen Balance zwischen den beiden verfeindeten Mächten kann damit keine Rede sein; der Status Quo offenbart vielmehr ein deutliches Ungleichgewicht, was aber besondere Risiken birgt.

Wenn die Inder mit ihren konventionellen Streitkräften in Kaschmir erst einmal richtig losschlagen, könnte die pakistanische Seite schnell so weit in die Defensive geraten, dass sie versucht wäre, die nukleare Karte doch zu ziehen. Präsidenten-General Pervez Musharraf hat diese Option nicht ausgeschlossen, als er sagte, dass sein Land als Atommacht zwar umsichtig agieren wolle, aber für "alle Herausforderungen" gewappnet sei.

In Indien wird das Risiko eines nuklearen Schlags der Pakistaner unterschiedlich eingeschätzt. Manche glauben dort, dass die amerikanische Präsenz in Pakistan die Machthaber in Islamabad von diesem Schritt abhalten könnte.

Der pensionierte General Ved Prakasch Malik, der 1999 indischer Armeechef während der Kargilkrise in Kaschmir war, wurde hingegen mit dem Satz zitiert: "Die Tatsache, dass Pakistan eine Nuklearmacht ist, sollte berücksichtigt werden".

Hauptgegner China

Die indische Nuklearrüstung hat aber nicht nur mit dem pakistanischen Feind und dem Kampf um Kaschmir zu tun. Delhis wichtigster strategischer Fokus in der Region bleibt der große Nachbar im Nordosten. Alles, was China unternimmt, wird in Indien mit Argwohn begleitet, und dass Pakistan in Peking einen natürlichen Verbündeten sieht, macht die Sache noch komplizierter.

Indien baut auch deshalb sein Atomarsenal weiter aus, weil Delhi nach Aussage des Rüstungsexperten Nassauer 150 Sprengköpfe als "Minimalabschreckung" Chinas für notwendig hält.

Alle Versuche, Indien und Pakistan von außen zu einer Begrenzung ihrer Atomwaffen zu bewegen, schlugen bisher fehl. Selbst die Amerikaner mussten einsehen, dass sie nicht den nötigen Druck dafür ausüben konnten.

So räumte Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im Sommer eher frustriert ein, dass Indien und Pakistan dann eben lernen müssten, "mit Atomwaffen zu leben, aber sie nicht zu benutzen".

Atomexperten freilich warnen, dass die frühen Stadien eines atomaren Wettlaufs sehr gefährlich sind. "Kontrollfehler sind dort viel wahrscheinlicher als bei etablierten Atommächten wie Russland oder den USA", sagt Nassauer. Das macht den Umgangmit dem Atompotenzial noch unberechenbarer.

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